Das war »Hinterm Mond 2025«

Science-Fiction statt Resignation in Zeiten des Klimawandels

Ein abwechslungsreicher und inspirierender Nachmittag liegt hinter uns. Der 5. Tag der Science-Fiction-Literatur in Ostfriesland lockte wieder zahlreiche Gäste aus der ganzen Republik in den Kulturspeicher nach Leer. | Alle Fotos von Klaus Ortgies

Hinterm Mond 2025, der 5. Tag der Science-Fiction-Literatur in Ostfriesland, fing mit einem Déjà-vu-Gefühl an. Wie bei der Premiere vor elf Jahren war die Deutsche Bahn bemüht, meine Planung über den Haufen zu werfen. Als ich gleich nach dem Aufstehen einen Blick ins E-Mail-Postfach warf, stach mir der Betreff »Bahn hat Verspätung« ins Auge. Pia Marie Hegmann, die am Nachmittag im Kulturspeicher in Leer lesen sollte, schrieb, dass zwei der drei ICEs, mit denen sie aus Karlsruhe kommen wollte, wegen einer Stellwerksstörung ausfielen und sie voraussichtlich erst acht Minuten vor Beginn der Veranstaltung in Leer eintreffen würde. Ich war noch dabei jemanden zu finden, der sie vom Bahnhof abholen konnte, da poppte die nächste Hiobsbotschaft auf. Bettina Wurche schrieb per SMS: »Gleich mein erster ein Zug hat Verspätung. Ich komme also etwas später, ca zwischen 15:30 u 16:00 Uhr.« Tja, man weiß ja wie das ist: Es wurde dann fast halb sechs. Auch Pias Verspätung bekam noch zwanzig Minuten Zuschlag. Alle anderen waren zum Glück rechtzeitig da. Also fingen wir ohne die beiden Frauen an.

Dem fünften von mir organisierten Tag der SF-Literatur in Ostfriesland hatte ich das Thema »Klima« verpasst und dabei versucht, möglichst junge Autorinnen und Autoren zu gewinnen, weil die vermutlich am längsten von den Auswirkungen der Klimakrise betroffen sein dürften. Halbwegs ist das gelungen: Frankie Tunnat geht in die vierte Klasse. Sie kam mit ihrer Mutter Yvonne, die als Autorin, Rezensentin und Herausgeberin eine feste Größe in der deutschen SF-Szene ist. Pia Marie Hegmann ist Jahrgang 2022, und der Luxemburger Luc François von 1993. Das Durchschnittsalter des Publikums, darunter ganz viele Stammgäste, lag allerdings sehr deutlich darüber, wirklich jung war nur eine Zuhörerin.

Jede Menge aktuelle Hiobsbotschaften

Bei der Begrüßung wies ich darauf hin, wie drängend das Thema Klimakrise ist. Gerade in den Tagen vor der Verunstaltung Anfang Oktober hatte es mehrere beunruhigende Nachrichten gegeben. Die Europäische Umweltagentur verwies in einem neuen Bericht auf die zunehmend schlechteren Umweltbedingungen durch Klimawandel, Überbeanspruchung der Natur und Artensterben. Das Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung gab an, dass sieben der neun kritischen Belastungsgrenzen des Erdsystems – Klimawandel, Integrität der Biosphäre, Veränderung der Landnutzung, Veränderung des Süßwasserkreislaufs, Veränderung der biogeochemischen Kreisläufe, Eintrag menschengemachter Substanzen sowie Ozeanversauerung – überschritten seien, und die Deutsche Gesellschaft für Physik und die Deutsche Gesellschaft für Meteorologie formulierten gemeinsam die Befürchtung, dass die Erde sich bis 2050 um drei Grad erwärmen könnte, wenn sich nichts ändert, mit der Folge, dass große Teile der Welt unbewohnbar würden. Die Vorboten erleben wir heute schon: Ähnlich wie in dem tödlichen Extremszenario zum Auftakt von Kim Stanley Robinsons Roman »Das Ministerium für die Zukunft« nähern sich die Hitzewellen in Indien der 50-Grad-Marke, und selbst bei uns stieg die Temperatur in diesem Sommer mehrfach auf über 35 Grad. Hat die Science-Fiction darauf Antworten? Kann sie etwas bewirken? Diese Fragen standen im Raum, als Yvonne und Frankie Tunnat als erste an diesem Nachmittag auf der Bühne Platz nahmen.

Mutter-Kind-Kooperation: Yvonne und Frankie Tunnat und das »grüne Rotze-Auto«.

In der mit verteilten Rollen gelesenen Geschichte »Stoppt das grüne Rotze-Auto!« sitzen Mama-Ina, ihr Kind Miro, ihr namenloses Baby und ein Nachbarskind in einem Auto und geraten in einen Stau nach dem anderen, während nach vier Tagen Dauerregen ein Hochwasser droht, die Straße zu überfluten und unpassierbar zu machen. Irgendwann geht gar nichts mehr, und die Leute fliehen vor der drohenden Überschwemmung aus ihren selbstfahrenden Autos. Ein Wagen – das »grüne Rotze-Auto« – verursacht das ganze Schlamassel.
Wie das Problem gelöst wird, wird hier nicht verraten, denn die Story soll noch veröffentlicht werden, vermutlich im Future Fiction Magazin. Die Lösung ist aber typisch für Solar Punk: Man schafft es gemeinsam aus der Welt. En passent werden in der Near-future-Geschichte auch alternative Familien- und Rollenmodelle skizziert.
Die »Rotze-Auto«-Geschichte haben Yvonne und Frankie nicht nur gemeinsam gelesen, sondern auch geschrieben. Die Story selbst, erzählte Yvonne, sei von ihr, bei den Dialogen hatte Frankie ein Wort mitzureden. Denn in vielen Fällen lag die Mutter daneben: »So spricht kein Kind!«

Die Katastrophe rückte näher

Pia Marie Hegmann hatte trotz ihrer dystopischen Geschichte offenbar viel Freude an ihrem Auftritt.

Mittlerweile im Kulturspeicher angekommen und ein wenig von den Reisekapriolen erholt, enterte Pia Marie Hegmann die Bühne. Sie studiert in München Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung, ist in der Klimabewegung und Poetry-Slammerin aktiv, wovon sie eine Kostprobe gab.

Ihre dystopische Story »2 Grad« erschien 2023 in der Anthologie »Klimazukünfte 2050 – Geschichten unserer gefährdeten Welt«. Auch darin stehen eine Mutter, Sarah, und ihre Kinder, Theresa und Lene, im Mittelpunkt. Die Geschichte wird abwechselnd aus Sarahs und Theresas Perspektive erzählt. Die Kleinfamilie muss sich mit den Folgen des Klimawandels herumschlagen, kann sich kaum über Wasser halten, weil selbst einfache Lebensmittel wie Nudeln aus Weizen unerschwinglich geworden sind. Aber in anderen Teilen der Welt ist es noch schlimmer. Deshalb überredet Tochter Theresa, die fast ihre ganze Freizeit bei Klimademonstrationen verbringt, ihre Mutter und ihre kleine Schwester, einen Klimaflüchtling in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung aufzunehmen. Sie rechnen mit jemanden von den Philippinen. Aber die Klimakatastrophe ist schon viel näher gerückt: Letizia kommt aus Italien. Eine Rolle spielt auch Sarahs wohlhabender Bruder Tim, der den Klimawandel nicht so ernst nimmt, weil er nicht unmittelbar betroffen ist. Am Ende scheint alle Hoffnung, dass sich vielleicht doch etwas zum Guten wenden lässt, vergebens. Die Nachrichten lautet: »EILMELDUNG! Forscher bestätigen: Zwei-Grad-Marke erreicht« Bleibt da nur noch die Resignation?
Pia selbst sieht das gar nicht so negativ. Zwischen den Extremen – »Alles ist schlecht und wir werden alle sterben« und »Alles ist super« – gebe es jede Menge Graustufen: »Wir sollten uns alle dafür einsetzen, damit es eine möglichst entspannte Grauzone wird.«

Nach einer Pause, die ausreichend Gelegenheit zum Klönen, Kaffeetrinken und Sich-die-Beine-vertreten bot, und einer Schreckminute, weil der Beamer offenbar wegen Überhitzung streikte, ging es pünktlich im Programm mit einem engagierten und aufrüttelnden Vortrag von Bettina Wurche zum Veranstaltungsthema weiter. Die gebürtige Hamburgerin studierte Zoologie, Fischereiwissenschaft und Geologie/Paläontologie, hat ein ausgeprägtes Faible für das Meer, ist Autorin und Wissenschaftsjournalistin, bekennender Star-Trek-Fan, die schon mal im blauen Wissenschaftler-Shirt und mit spitzen Ohren auf Cons auftaucht, und Expertin für Climate Fiction. In diesem Jahr (2026) wird ein Buch von ihr darüber im Hirnkost-Verlag erscheinen.

Bettina Wurche zeigte sich überzeugt, dass Climate Fiction bei der Bewältigung der Klimakrise helfen kann.

Der Vortrag nahm vor 250 Millionen Jahren beim »krassesten Massensterben aller Zeiten beim Übergang vom Erdaltertum zum Erdmittelalter« seinen Anfang und führte die Zuhörer bald in ein »Bullerbü der Erdgeschichte«, das halbwegs stabile Weltklima nach dem Ende der letzten Eiszeit vor zehntausend Jahren. Das stabile Klima sorgte meist auch für soziale und wirtschaftliche Stabilität. Aber diese Phase, machte die Referentin deutlich, ist vorbei. Die zunehmende Energiezufuhr in die Atmosphäre mache unser Klimasystem zunehmend instabil. »Wir sind jetzt schon bei 1,5 Grad Erwärmung und rasen komplett ungebremst auf zwei Grad zu«, sagte sie und bestätigte das, was Pia Hegmann in ihrer Kurzgeschichte thematisiert hat. Tödliche Hitzewellen suchen Indien heim. Bei 50 Grad könnten die Leute nicht mehr auf den Feldern arbeiten, »da fallen jetzt schon Vögel tot vom Himmel«. Die Versicherungswirtschaft rechne mit Hunderten Milliarden Euro an Schäden durch Extremwetterereignisse. Die Ahrtal-Flut von 2021 habe in Deutschland mehr als 150 Menschenleben gefordert und mehr als vierzig Milliarden Euro Schaden verursacht.
Bettina Wurche forderte das Publikum (stellvertretend für die gesamte Gesellschaft) in einem flammenden Appell auf zu handeln, das Heft selbst in die Hand zu nehmen und nicht länger auf die Mächtigen zu vertrauen. Deren Erzählung laute immer noch, dass wir den Klimawandel verhindert könnten. Aber das sei falsch: »Wir stecken mitten drin. Wir brauchen Sofortmaßnahmen.«
Climate Fiction könne hier wichtige Impulse geben. Sie sei ist gegenwartsbezogen, interdisziplinär, sehr divers, kontrovers und sehr politisch, transmedial, anwendungsbezogen und didaktisch. Sie könne die komplexen Zusammenhänge in Geschichten verpacken und verständlich machen, sie emotionalisiert durch gute Protagonisten vermitteln: »Wir können uns davon vielleicht etwas abgucken.«

Kein Verständnis für den »Flirt mit dem Untergang«

Unverständnis zeigte sie für den »Flirt mit dem Untergang«, mit einem aktuellen Hochkonjunktur von Dystopien bei Netflix & Co.: »Sie lähmen uns, die bringen uns doch null weiter.« Sie seien bequem, weil sie einen vom Handeln entbinden. Nur positive Geschichte würden uns unserer Handlungsfähigkeit erhalten.
Bettina Wurche hält große Stücke auf Margaret Atwood, der Autorin unter anderem von »Der Report der Magd«. Sie sage, dass sich nicht nur das Klima wandele, sondern alles. Die Klimakrise, die Öko-Krise und soziale Ungerechtigkeit gehörten zusammen. Die Klimakrise mache gesellschaftliche Ungleichheiten noch sichtbarer. Das alles kulminiert in einer klaren Forderung: »Wir brauchen einen Systemwechsel!«

Der Luxemburger Luc François bot zum Abschluss Inneneinsichten.

Bei Luc François, der zu der sehr aktiven jungen Luxemburger Phantastik-Szene gehört und Frontman zweier Metal Bands ist, ging es in mehreren kurzen Beiträgen – darunter ebenfalls ein Slam-Poem – vor allem um das Innenleben der Protagonisten bei der Konfrontation mit ihrer Umwelt, um Identität. In »Echo« beispielsweise lebt der Ich-Erzähler in einer Welt voller Klimakatastrophen und politischer Instabilität, die ihn aber in dem beschaulichen fiktiven Kleinstaat Xem, eine satirische Anspielung auf Lucs Heimatland, nur am Rande berühren. Er reflektiert über die Gefahr, die von dem in Xem allgegenwärtigen Super-Techkonzern Echo – so etwas wie Google, Facebook, Amazon etc. unter einem Dach – für ihn, für sein Land und die Menschen ausgeht. Ein düsteres, persönliches Endzeit-Weltraumabenteuer ist »Aus dem Schiffsbuch der Salteema«, in dem ein Händler mit seinem Raumschiff in den Vergessenen Sektor reist und dort von Piraten gekapert wird (nachzulesen in Luc François’ Kurzgeschichten-Sammlung »Hirngespinste und Silberstreife«, erschienen bei Hydre Éditions).

»Würdet ihr einen Klimaflüchtling, wie in Pia Marie Hegmanns Geschichte beschrieben, aufnehmen?« Mit dieser Frage eröffnete Moderatorin Karin Lüppen die Schlussrunde, in der alle Beteiligten eingeladen waren, ein Resümee der Veranstaltung zu ziehen. Niemand hat mit »Ja« geantwortet. Am Ende gab’s für alle Beteiligten viel Applaus und eine kleine Pralinen-Auswahl als Rückreiseproviant. Der Abend klang wie immer mit Pizza, Pasta, Bier, Cola und Rotwein beim Italiener aus.

Ob es in zwei Jahren eine Fortsetzung geben wird, lasse ich wie immer offen. Wer auf dem Laufenden bleiben will, sollte den Newsletter abonnieren.

»Hinterm Mond« ist ein von mir organisiertes Event in Leer/Ostfriesland. Bisher hat es fünf »Tage des Science-Fiction-Literatur in Ostfriesland« gegeben, an denen 22 SF-Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und Luxemburg beteiligt waren: Ralf Boldt, Oliver Henkel, Heidrun Jänchen, Karsten Kruschel und Axel Kruse (2014), Andreas Brandhorst, Uwe Hermann, Kai Hirdt und Uwe Post (2018), Regine Bott, Theresa Hannig, Jacqueline Montemurri und Madeleine Puljic (2021), Thorsten Küper, Aiki Mira, Jol Rosenberg und Gerhard Wiechmann (2023) sowie Luc Francois, Pia Marie Hegmann, Yvonne und Frankie Tunnat und Bettina Wurche (2025).

Die Reihe im Kulturspeicher, einem zum Veranstaltungslokal umgebauten alten Warenspeicher am Leeraner Hafen, strahlt weit über die Region hinaus.

Ich habe alles im Blick.

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