Ein Heimatroman des Grauens

»Das Gangrän« spielt in Luxemburg. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wird in diesem Roman von Maxime Weber unscharf.

Maxime Weber: Das Gangrän. Kremart Edition, Luxemburg. 2021. ISBN 978-2-919781-40-9. 300 Seiten, 18 Euro.

Gangrän – was für ein seltsames Wort. Weil der Roman »Das Gangrän« des Luxemburgers Maxime Weber in Luxemburg spielt, habe ich es für ein luxemburgisches Wort gehalten. Aber weit gefehlt: Gangrän kommt aus dem Griechischen und ist ein medizinischer Ausdruck für die Verwesung oder Selbstverdauung von Gewebe. Es verheißt nichts Gutes für die Protagonisten, dass Gangrän dem Buch den Titel gegeben hat.

Die junge Luxemburgerin Jeanne hört auf dem Weg von Paris, wo sie studiert, zu ihrem fiktiven Heimatort Pardange, wo sie die Semesterferien verbringen will, von einem verstörenden Vorfall in Indien mit hunderten Toten und einem ähnlichen Ereignis in Algerien. Dort ist wie aus dem Nichts ein bläulich leuchtendes Geflecht erschienen. Bei der Berührung mit ihm zersetzt sich alles Organische, egal ob Pflanze, Tier oder Mensch, als ob es in Sekundenschnelle verwelkt oder verwest.

Das Phänomen berührt Jeanne zunächst nur am Rande; es ist unheimlich, aber weit weg. Sie freut sich, ihre Familie und ihre Freunde wiederzusehen, geht mit ihnen feiern und hat eine gute Zeit. Weber gibt diesem Ferienalltagsleben viel Raum und auch Jeannes Versuchen mit luziden Träumen, ein Thema, das den ganzen Roman bis zur letzten Seite durchzieht (Ich musste mich erst einmal schlau machen, was das ist.). So betulich und einfach wie das Leben in dem 700-Seelendort ist an einigen Stellen aber auch die Sprache des Buchs. Es gibt stilistische Schwächen, Unbeholfenheiten. Etwa wenn es heißt: [Sie konnte] »all diese Erlebnisse durchleben« (2 x »leb«) oder »Als ihr Großvater merkte, dass sie auf ihn zukam …« (banal und unmotivierter Perspektivwechsel, Perspektivfigur ist immer Jeanne.)

Auf solche Banalitäten folgen aber immer wieder tiefgründige, fast schon poetische Formulierungen wie: »Dass die vertrautesten Gesichter Räume hinter sich verbargen, zu denen nie jemand Zutritt hatte; unkartografierte Inseln des radikal Anderen, die immer wieder im eigentlich familiären Ozean aufblitzten.«

Maxime Weber

Das Grauen kommt näher

Irgendwann dringt das Gangrän in Jeannes Welt ein, anfangs indirekt: Während einer Fernsehübertragung der Tour de France wird live nach Paris geschaltet, die Stadt, in der Jeanne lebt. Das inzwischen Gangrän getaufte Phänomen überwuchert in Nullkommanix die ikonische, 111 Meter hohe Grande Arche im Hochhaus-Stadtteil La Défense. Die Fernsehzuschauer erleben dabei mit, wie ein Mensch vom Gangrän »verwest« wird: »Seine Haut verfärbte sich plötzlich zu einem bläulichen Purpur, ehe sie in ein orangenes Rot überging. Dann fing der Körper an zu schrumpfen und nach und nach lösten sich die Gliedmaßen vom Rumpf wie Blätter von einem leblosen Baum. Zurück blieb nur die Kleidung.«

Während das Gangrän, gegen das es kein Mittel zu geben scheint, sich unaufhaltsam ausbreitet und das öffentliche Leben weltweit zusammenbricht, grenzt sich Jeannes Leben immer weiter auf Pardange ein. Ihre beste Freundin Caroline, die im Nachbarort wohnt, zieht bei ihr ein. Eines Tages machen sie sich auf, um Jeannes Großeltern, die in der Stadt Luxemburg leben, in ihr Dorf zu holen. Die Hauptstadt des Großherzogtums ist fast menschenleer, wer konnte, ist vor dem schon sehr nahen Gangrän geflohen.

Hier gelingt Weber die wohl eindringlichste Szene des Buches: Jeanne und Caroline beobachten, versteckt in einem liegengebliebenen Straßenbahnwagon, wie ein Mann und eine Frau von einer Gruppe sogenannter Gangränisten verfolgt und gestellt wird. Als die Frau sich wehrt, wird sie erschossen. Anschließend wird der Mann gezwungen, sich in eine bizarre Prozession einzureihen. Angeführt von einem »Hohepriester« genannten Mann ist es das Ziel dieser Menschen, sich in das Gangrän zu stürzen, um Erlösung zu finden.

Nahe an der Realwelt

Die Szene lässt Weber an einer Stelle spielen, die fast jedem Luxemburger etwas sagen dürfte (und nicht Ortskundige problemlos bei Google Maps finden können). Das rückt die fiktiven Ereignisse nahe an unsere Realwelt, was diese noch bedrohlicher wirken lässt. Genauso funktioniert die Wahl der Grande Arche. Wer schon mal dort war, kann sich das Ungeheuerliche des Vorgangs erschreckend bildhaft vorstellen. Dem Roman ist außerdem eine Karte von Pardange vorangestellt, als deren Autoren zwei Romanfiguren genannt werden (was man aber erst im Laufe der Lektüre bemerkt). Das macht den fiktiven Ort und die Ereignisse dort erfahrbarer. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wird unscharf.

Wie der Roman zu Ende geht, ob das Gangrän die Welt überwuchert oder – im übertragenenen Sinne – im letzten Moment die Kavallerie anrückt, um dem Spuk ein Ende zu bereiten (wie z. B. im Film »Shaun of the Dead«), lasse ich hier offen.

So unglaublich es klingt: Webers schöner Debütroman verbreitet sogar ein wenig Optimismus (wenn auch nicht für die Romanfiguren, so doch für die Leserinnen und Leser): Auch in der bedrohlichsten Krise muss nicht alles den Bach runtergehen, ist die Botschaft. Jeanne, die ohne ein klares Ziel im Leben war, kann ihre Fähigkeit des luziden Träumens weiterentwickeln, entdeckt ihre Stärken, übernimmt Verantwortung für die selbstbewusst gewordene Dorfgemeinschaft und vergnügt sich, wenn auch nur sehr kurz, mit einem jungen Franzosen (zum Glück macht den Autor nicht den Fehler, die Story mit einer Liebesgeschichte zu überfrachten).

Weber bezeichnet seinen Heimatroman als Weird Fiction. Mit dem Gangrän hat er ein übernatürliches, unergründbares Phänomen geschaffen, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Der junge, noch nicht einmal 30 Jahre alter Autor weiß, in welcher Tradition er damit steht. Es gibt Verweise auf den Cthulhu-Mythos von H. P. Lovecraft und Mary Shelleys »Frankenstein«. Denn Jeannes Mutter ist Literaturprofessorin mit Schwerpunkt Science-Fiction. Es kommt sogar ein Raumschiff vor – wenn auch nur in einem luziden Traum.

  • 2023 wurde »Das Gangrän« vom altehrwürdigen Institut Grand-Ducal de Luxembourg mit dem »Prix Arts et Lettres« ausgezeichnet. Dieser Förderpreis wird alle zwei Jahren an einen jungen Künstler verliehen.

Die Rezension erschien erstmals in Ausgabe 278 der Andromeda Nachrichten, dem Mitgliedermagazin des Science-Fiction-Clubs Deutschland.

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Wikinger, Whiskey, Vremeatron

In der turbulenten »Zeitreise in Technicolor« macht Harry Harrison sich über Hollywood lustig. Er schickt eine Filmcrew zu den alten Wikingern.

Links das Titelbild der ersten deutschen Ausgabe von »Zeitreise in Technicolor« mit Wikinger, Drachenboot und Kameramann, also passend zum Thema des Romans. Es ist von Karl Stephan. Für das Cover der Neuausgabe wurde ein Bild von Peter Jones (für den Roman »Synaptic Manhunt« von Mick Farren von 1976) verwendet.

An so einem Buch konnte ich nicht achtlos vorbeigehen, denn es vereint gleich zwei Interessen von mir in einem Roman: Zeitreisen und die Entdeckung Amerikas durch die Europäer. Dass »Zeitreise in Technicolor« von Harry Harrison von einer Zeitreise handelt, verrät der Titel. Dass es in dem Buch um die Entdeckung Amerikas geht, habe ich irgendwo gelesen, wodurch ich erst auf das Buch aufmerksam geworden bin. Die Story erschien 1967 zunächst als dreiteilige »The Time-Machine Saga« im SF-Magazin Analog, dann im selben Jahr mit dem Titel »The Technicolor® Time Machine« als Buch. Die deutsche Übersetzung von Birgit Reß-Bohusch kam 1970 und 1979 als Terra-Taschenbücher 172 und 315 mit unterschiedlichen Titelbildern bei Moewig bzw. Pabel heraus. Harrison (1925-2012) war ein sehr produktiver Autor. Sein Roman »Make Room! Make Room!« von 1966 (dt. »New York 1999«, 1969) war die Vorlage für den Film »Soylent Green«.

L. M. Greenspan, Chef der Climactic-Filmstudios in Hollywood, steht kurz vor der Pleite. Ein Kassenschlager muss her. Sein mittelmäßiger Regisseur Barney Hendrickson macht ihn mit Professor Hewett bekannt. Der Wissenschaftler hat eine Zeitmaschine erfunden, die er Vremeatron nennt. Vreme ist das serbokratische Wort für Zeit ( eine seiner Großmütter war Kroatin). Hewett braucht ebenfalls Geld. Sie machen einen Deal: Mit Hilfe des Vremeatrons soll Hendrickson einen »milieugetreuen, realistischen, billigen, langen und hochwertigen Breitwandschinken« an Originalschauplätzen drehen. Greenspan verlangt »[e]ine vollkommen neue Version der Entdeckung Nordamerikas durch die Wikinger«. So blauäugig, großspurig und selbstgefällig, wie alle an die Sache rangehen, ist von Anfang an klar, dass Harrison sich über Hollywoods Filmindustrie lustig macht.

Ohne groß nachzudenken, aber geradezu virtuos setzt Barney das Vremeatron ein, um durch allerhand Zeitsprünge in die Vergangenheit und wieder zurück den Film innerhalb weniger Tage fertigzustellen. Der Drehbuchautor zum Beispiel wird vorübergehend auf eine urzeitliche Insel versetzt, um in Ruhe und ohne Ablenkung schreiben zu können. Für ihn vergehen Wochen, aber in der Gegenwart ist es nur eine Stunde. Man gibt sich praktisch selbst die Türklinke in die Hand. Ebenso verfährt der Regisseur mit dem Wikinger-Häuptling Ottar, der Anfang des 11. Jahrhunderts auf einer Orkney-Insel lebt. Der wird zunächst, ganz in der Manier europäischer Eroberer der frühen Neuzeit, gekidnappt, in Hollywood mit Jack Daniel’s Whiskey abgefüllt und geködert und anschließend mit einem Sprachlehrer zurückgeschickt, damit er bis zum Beginn der Dreharbeiten Englisch kann. Er wird gebraucht, damit seine Leute als billige Statisten mitspielen.

Die Dreharbeiten gehen natürlich nicht reibungslos über die Bühne. So wird Ottars kleine Siedlung gleich von einem feindlichen Wikingerstamm überfallen, es kommt zum Kampf, und es gibt Tote. Zum Glück hat der furchtlose italienische Kameramann Gino alles auf Film. Dann stolpert der Hauptdarsteller über ein Schaf, bricht sich ein Bein und quittiert den Job. In seiner Not macht Hendrickson Ottar zu dessen Nachfolger. Mit viel gutem Zureden und noch mehr Whiskey macht der Wikinger seine Sache halbwegs ordentlich.

Nach diesem Vorgeplänkel auf den Orkneys soll es nach Amerika gehen, nach Neufundland, das im Mittelalter bei den Wikingern als Vinland bekannt war. Ottar sticht mit einem Boot, einem Knorr, in See, während die Filmcrew die mehrwöchige Reisezeit mit dem Vremeatron überbrückt. Auf Neufundland kommt es zu ersten Begegnungen mit eingeborenen Dorset-Indianern. Schließlich, so steht es

im Drehbuch, suchen sich die Wikinger einen Platz zum Siedeln und bauen mehrere Häuser. Es gibt weitere Zwischenfälle mit den Dorsets, die schließlich die Siedlung überfallen, genauso wie es das Drehbuch bzw. Hendrickson gewollt hat.

Wer sich mit den Wikingerfahrten um das Jahr 1000 nach Amerika auskennt, wird recht früh merken, worauf die Geschichte hinausläuft. Eine Reihe von Ereignissen – da bricht beispielsweise ein Stier aus der Wikingersiedlung aus und versetzt die Eingeborenen, die solche Tiere nicht kennen, in Angst und Schrecken – und viele Namen ähneln verblüffend dem, was in den isländischen Sagas über Vinland berichtet wird. Der erste Wikinger, der Neufundland sichtete, hieß laut der Grönland-Saga Bjarni Herjólfsson, der Rollenname der Hauptdarstellerin Slithey Tove, Gudrid, taucht in den Sagas ebenso auf wie der ihres Sohnes Snorey (sie hatte wegen eines Schäferstündchens mit Ottar das Vremeatron verpasst und musste ein Jahr in der Wikingersiedlung bleiben).

Barney geht ein Licht auf: »Der einzige Grund für die Besiedlung Vinlands durch die Wikinger ist unser Entschluß, einen Film zu drehen, der die Besiedlung Vinlands durch die Wikinger zeigt.« Das juckt ihn aber nicht weiter. Der Film ist fertig, Greenspan ist gerettet und der nächste Film in Planung. Diesmal soll es ein biblisches Thema sein.

Fazit: Ein turbulentes Buch mit überzeichneten Figuren, mit 160 Seiten gut für ein paar unterhaltsame Lesestunden. Schade, dass wir nicht mehr über Barney und das Vremeatron lesen können.

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Skurriles Personal und irrwitzige Wortschöpfungen

»Cutter ante portas« – Bücher von Michael Marrak zu lesen ist immer ein Vergnügen

Michael Marrak: Cutter ante portas – Ein Kanon-Roman. Amrun-Verlag 2022. ISBN 9783958694910. 12,90 € (Taschenbuch) | 15,90 € (Hardcover).

Seitdem ich vor rund 20 Jahren »Lord Gamma« gelesen habe, gehört Michael Marrak zu meinem Lieblingsautoren, und ich kann es kaum erwarten, dass ein neues Buch von ihm erscheint. Ich habe ihn inzwischen mehrmals getroffen, zuletzt beim Buchmesse-Con im Oktober in Dreieich, und lasse mir die Neuerscheinungen möglichst von ihm signieren. Sein jüngstes Werk »Cutter ante Portas«, signiert beim ElsterCon 2022 in Leipzig, habe ich an zwei Nachmittagen gelesen (bei 240 Seiten kein Kunststück) und dabei live auf Twitter kommentiert.

»Cutter ante portas« ist ein Roman aus Marraks bunten Kanon-Universum, einer Welt weit in der Zukunft, die von Maschinen und anderen beseelten Dingen bevölkert wird. Cutter, der schon im Hauptwerk »Der Kanon mechanischer Wesen« eine wichtige Rolle spielte, ist der personifizierte Tod, der Schnitter, gekleidet in einen schwarzen Umgang und ausgestattet mit der Sense und dem Stundenglas, das ihm allerdings verlustig gegangen ist, wo er es doch jetzt gut brauchen könnte. Als Cutter in die unterirdische Stadt Solicia kommt, erfährt er, dass eine einst vertriebene große Gefahr für die ganze Welt zurückgekehrt ist: die Maschine, die alle Probleme löst und unsere Sprache spricht. Er macht sich auf die Suche.

Das alles erzählt Michael Marrak mit einem skurrilen Personal und einem bunten Feuerwerk an kuriosen Wortschöpfungen, mit Sprachwitz, verdrehten Zitaten, Anspielungen und Verweisen. Das fängt schon mit dem Titel des Romans an: Wer dächte dabei nicht an »Pappa ante portas«? Noch überdrehter als in diesem Film von Loriot geht es in der Kanon-Welt zu, in der sprechende Ortsschilder Stadttore bewachen, ein Sehnsuchtsgeysir im Untergrundgrund döst, Spiegelbilder ihrer eigenen Weg gehen und ein Wenigerchen sich akkusativ in den Augen bohrt. Das erzeugt so viele merkwürdigen Bilder im Kopf und macht so viel Spaß, dass man den eher konventionellen Plot gerne hinnimmt.

Ich freue mich schon auf die im Buch angekündigte Fortsetzung, wenn es auf »Die Insel der Kyberiaden« geht und Cutter die Welt rettet. »Kyberiade« ist übrigens der Titel eines Buches von Stanislaw Lem mit »Fabeln zum kybernetischen Zeitalter«. Der polnische Schriftsteller ist ebenfalls für seine kreativen Neologismen bekannt, und es würde mich nicht wundern, wenn sich eines seiner kuriosen mechanischen Geschöpfe in Marraks Roman verirrt hätte.

Wie beim »Kanon« üblich, stammen sowohl das Covermotiv als auch die Innenillustrationen von Michael Marrak selbst.

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