Eine Zeichnung von Columbus?

Auf zwei Briefmarken, die 1954 in Haïti erschienen, ist in französicher Sprache zu lesen: Fort de La Nativité Haïti. Designé par Christophe Colomb – auf Deutsch: Festung La Nativité Haïti. Zeichnung von Christoph Columbus. So steht es in vielen Briefmarkenkataloge. Ähnliches kann man aber auch in manchen Büchern über Columbus lesen. Aber beide Aussagen sind falsch: Es handelt sich weder um eine Abbildung der Festung La Navidad, die Columbus im Dezember 1492 auf der gerade entdeckten Insel Hispaniola anlegen ließ, noch ist es eine Zeichnung von der Hand des Entdeckers.

Dennoch hat der Holzschnitt einen direkten Bezug zur Entdeckung Amerikas. Er stammt aus einer gedruckten Ausgabe eines Briefes an Luis Santángel, den königlich spanischen Schatzmeister. Columbus hat diesen Brief am 15. Februar 1493 nördlich der Kanarischen Inseln geschrieben, als er von Amerika heimkehrte. Als er am 4. März in Portugal das europäische Festland erreichte, schickte er den Brief nach Spanien. Es ist der erste schriftliche Bericht über die Entdeckung.

Unmittelbar nachdem der Brief den spanischen Hof erreicht hatte, wurde er in Barcelona von Pedro Posa gedruckt. Schon Anfang Mai 1493 wurde von Stephan Blanck in Rom eine lateinische Übersetzung des Briefes von Aliander de Cosco gedruckt. Ebenfalls im Jahr 1493 ging diese lateinische Übersetzung in Basel in Druck. Sie erhielt den Titel De Insulis Inuentis (Die entdeckten Inseln betreffend) und war mit einem halben Dutzend Holzschnittten illustriert. Eine zweite Ausgabe wurde 1494 in Basel von Johann Bergmann gedruckt, jetzt mit dem Titel De insulis nuper in mari Indico repertis (Die kürzlich im indischen Meer entdeckten Inseln betreffend) und mit den gleichen Illustrationen in einer anderen Reihenfolge versehen.

Es wurde lange angenommen, dass die Holzschnitte der Basler Ausgabe nach Originalen von Columbus entstanden seien. Mittlerweile sind die Experten aber ziemlich sicher, dass es sich um die eigenständige Arbeit eines Schweizer Künstlers handelt, der als der Meister des Haintz Narr bekannt ist. Natürlich war er nicht mit Columbus in Amerika. Die Zeichnungen sind der Phantasie entsprungen und zeigen schematische Darstellungen in der für die Zeit typischen Art.

Betrachtet man die Zeichnung von La Navidad genauer, erkennt man die Inschrift Insula hyspana, eine Reihe von Bauwerken und einen Mann, der einen Kran bedient. Ein Gebäude aus großen quaderförmigen Steinen scheint noch in Bau zu sein. Der Künstler hat offenbar versucht, eine von Columbus beschriebene Szenerie wiederzugeben:

Doch habe ich hier auf Hispaniola in der günstigsten Lage und an einem für jeden Gewinn bringenden Handel geeigneten Ort von einem bestimmten großen Dorf, das wir Navidad nannten, in ganz besonderer Weise Besitz ergriffen und gab sofort den Befehl, dort eine Festung zu errichten, die mittlerweile schon fertig sein muss.

Dieser Abschnitt vermittelt nur wenige und falsche Eindrücke von Hispaniola. Deshalb musste sich der Künstler sich an bekannte Muster halten. Das lässt die Szene sehr europäisch erscheinen und hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Der Illustrator wusste auch nicht, dass das Fort aus dem Holz der Santa Maria gebaut wurde. Der Verlust des Flaggschiffs wird in dem Brief nicht einmal erwähnt.

Der Brief ist viele Mal gedruckt worden. Zurzeit ist eine Faksimile-Ausgabe zum Preis von 320 Dollars erhältlich (Bieler Press, Marine Del Rey, ISBN 0944585019). Eine preisgünstige zweisprachige Ausgabe (Latein/Deutsch) ist 2000 unter dem Titel Der erste Brief aus der Neuen Welt im Reclam Verlag, Stuttgart, erschienen (ca. 2,50 €, ISBN 3150180791).

Vollständige Reproduktionen werden im Internet von der Uni Mannheim bereitgestellt.

Dieser Text ist ursprünglich in Discovery!, der Mitgliederzeitschrift der Christopher Columbus Philatelic Society, unter dem Titel No Columbus drawing. Concerning the Woodcut on two Haitian Stamps erschienen und für die Online-Version von mir übersetzt und bearbeitet worden.