Arno Schmidt lässt die Mutanten tanzen

»Die Gelehrtenrepublik« ist ein Roman, der in der Zukunft spielt. Ist es auch ein Science-Fiction-Roman? Die Frage kann man mit »Nein« beantworten, muss man aber nicht.

Arno Schmidt steht seit Jahrzehnten in meiner Büchersammlung.

Wenn ich mal wieder nach der Lektüre allzu vieler erzählerisch und sprachlich mittelmäßiger bis langweiliger SF-Kurzgeschichten und -Romane Abstand brauche, greife ich gerne zu einem Buch von Arno Schmidt (1914-1979). Meine Wahl fiel dieses Mal auf »Die Gelehrtenrepublik« von 1957 (mein Geburtsjahr nebenbei), aus gegebenen Anlass: Im Verlag p.machinery wird eine Neuausgabe mit Illustrationen von Thomas Franke vorbereitet (Video, ~ ab Minute 30). p.machinery ist einer der wichtigsten deutschen Kleinverlage für Science Fiction.

Hat Arno Schmidt etwa Science-Fiction geschrieben? Schmidt-Fans auf der einen und SF-Fans auf der anderen Seite würden unisono, mit deutlich hörbarer Empörung in der Stimme sagen: Nein! Die einen, weil sie SF für verachtenswerte Trivialliteratur halten, die anderen, weil es eben keine Science Fiction sei (frei nach Damon Knight: SF ist, was SF-Leser dafür halten.) und dann noch so merkwürdig geschrieben. Die kleine Schnittmenge beider Gruppen, zu der ich gehöre, würde »Ja/Vielleicht/Hm?« sagen.

Hm?

Schmidts »Gelehrtenrepublik«, eine sogenannte Quellenfiktion, hat eine ganze Reihe von Elementen, wie sie in SF-Romanen gang und gäbe sind:

  • Der Roman spielt rund 50 Jahre in der Zukunft.
  • Europa ist nach einem Atomkrieg zerstört.
  • Deutschland gibt es nicht mehr.
  • Der fiktive Übersetzer des Romans ist einer von nur noch 124 lebenden Deutschen.
  • In Amerika zieht sich ein von hohen Mauern begrenzter Hominidenstreifen über 4000 Meilen von Nord nach Süd. In diesem Sperrgebiet leben drei mutierte Lebensformen, Mischungen aus Mensch und Tier: Zentauren (Mensch-Pferd), Never-nevers (Mensch-Spinne) und Fliegende Masken (Mensch-Schmetterling).
  • Die Supermächte USA und UdSSR haben ihr »gesamtes spalbares Material« im Mondkrater Wargentin entsorgt, was bei Neumond als roter Fleck sichtbar ist.
  • Es gibt Mondflüge.
  • Die titelgebenden Gelehrtenrepublik IRAS (International Republic for Artists and Scientists) ist eine über die Weltmeere fahrenden riesige Insel bzw. Plattform. Dort leben und wirken geniale Wissenschaftler und Künstler aus aller Welt in einem vermeintlich idealen Gesellschaft.
  • Auf der Insel werden von den beiden Supermächten, die jeweils einen von einer neutralen Zone getrennten Inselteil kontrollieren, transhumane Experimente gemacht: Die UdSSR verpflanzt Gehirne alternder Genies in junge Körper (einschließlich Geschlechtertausch) und die Gehirne der »Körperspender« in Hunde, die zur Spionage eingesetzt werden; die USA verlängern die Lebensspanne von Menschen durch Hibernation (Winterschlaf).

Die Handlung: Der amerikanische Reporter Charles Winer, der schon auf dem Mond war, darf für 50 Stunden die IRAS besuchen, die gerade im Nordpazik unterwegs ist. Um das Zubringerschiff zu erreichen, muss er den Hominidenstreifen zu Fuß durchqueren. Dabei lernt er eine Zentaurin kennen, hat Sex mit ihr, und trifft auf die Spinnen- und Schmetterlingsmutanten. In der Gelehrtenrepublik angekommen, wird er von den Inselkommandanten West und Ost als Spion und Vermittler in bizarren Entführungsfällen eingeetzt, wobei beide Seiten ihm freimütig Einblick in ihre Experimenten geben. Die Vermittlung scheitert, die beiden verfeindeten Seiten manipulieren den Antrieb der Insel so, dass sie ins Rotieren gerät und zu zerbrechen droht. Winer kann die Insel unbehelligt verlassen und in seine Heimat zurückkehren.

Also, alles Elemente für einen spannenden SF-Roman. Es gibt aber keinen Spannungsbogen, keinen Konflikt, der Protagonist agiert nicht, sondern ist Beobachter und denkt sich seinen Teil. Es geht Schmidt um Erkenntnis. In der Gelehrtenrepublik mit ihrem deutlichen Bezug zu Utopia wird das Ideal an der Wirklichkeit der 1950er Jahre (Atomkriegsgefahr, Blockkonfrontation etc.) gemessen und ist, so Schmidts Credo, zum Scheitern verurteilt. Ein Thema, das sich durch sein gesamtes Werk zieht.

Charakteristisch für Schmidts Stil ist außer einer eigenwilligen, jede Konvention ignorierende Orthografie die fragmentarische Erzählweise: »Der Sinn dieser ›zweiten‹ Form ist also, an die Stelle der früher beliebten Fiktion der ›fortlaufenden Handlung‹, ein der menschlichen Erlebnisweise gerechter werdendes, zwar magereres aber trainierteres, Prosagefüge zu setzen.« So sieht das im konkreten Fall, dem Anfang der »Gelehrtenrepublik«, aus:

22.6.2008 : Auf Kankerstelzen aus Licht der kleingeschnürte Sonnenleib über der Landschaft.
Spätnachmittag im Auto1 : nochmal nachfühlen – ? – Ja : Notizblock, Fernrohr, Grüne Brille; Ausweise vor allem. / Und die Straße rappelte : Sonne & Kakteen gemischt. Faul lag mein Fingerzeugs vor mir. Daneben rauchte der Captain (und sang; immer auf ‹uun› : moon und noon und June und racoon – gibt es etwa schon Menschengruppen, die nur einen auf bestimmte Vokale hin gefärbten Wortschatz erlernen?).

1 Geräuscharm, atomgetrieben; ich wählte den noch am nächsten kommenden der verschollenen Begriffe.

Aus: Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. In: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Bd. 2. Zürich 1986: Haffmans. ISBN: 3-251-80002-7, S. 225


Schmidt hat, nach Genre-Maßstäben, keinen SF-Roman geschrieben, und das sicher nicht in bewusster Abgrenzung. Zwar kannte er die SF-Klassiker Jules Verne, H. G. Wells, Kurd Laßwitz und Hans Dominik (den er zu den »Elendsten« unter den deutschen Schriftstellern zählte), aber dass er SF als eine bestimmte Literaturgattung wahrnahm, erscheint mir ausgeschlossen. Zumal das Genre während der Entstehungszeit des Romans 1956/57 mehr als heute ein Nischendasein führte. Heftromane, die ein paar Jahre zuvor aufgekommen waren, wird er in Zeitschriftenkiosken gesehen haben, und in Leihbüchereien werden die phantastisch-wissenschaftlichen Romane wohl auch nicht seiner Aufmerksamkeit entgangen sein. Aber diese Begegnung hat keine Spuren hinterlassen.

»Die Gelehrtenrepublik« würde ich nach dem von Bruce Sterling (englicher SF-Schrifsteller und -Kritiker) geprägten Begriff zur Slipstream-Literatur zählen. Damit sind u. a. literarische Werke mit fantastischem oder unrealistischem Inhalt gemeint, die SF-Elemente verwenden, aber nicht dem SF-Genre zugeordnet werden und auch formal nicht den genretypischen Konventionen entsprechen. Allerdings hat Slipstream wie SF einen entscheidenden Mangel: Es gibt keine allgemein anerkannte Definition.

Der Roman ist übrigens nicht das einzige Beispiel fantastischer Elemente in Schmidts Werk. Im Roman »KAFF auch Mare Crisium« (1960) klingt schon im Titel an, dass ein Teil des Romans auf dem Mond spielt (weil die Erde nach einem Atomkrieg unbewohnbar geworden ist), und in der Erzählung »Goethe und einer seiner Bewunderer« (1958) können Tote für einige Stunden wieder lebendig gemacht werden, was Schmidt nutzt, um als Ich-Erzähler mit Goethe durch Darmstadt zu spazieren. In »Die Schule der Atheisten« (1972) werden nach einem verheerenden Atomkrieg sogar Ufos gesichtet.

Sehr hilfreich bei der Recherche zu diesem Blogpost war mir die Homepage der Arno-Schmidt-Stiftung und dort besonders die online duchsuchbaren Werke der sogenannten Bargfelder Ausgabe (daraus wird auch zitiert): https://www.arno-schmidt-stiftung.de/eba/search

Hat dir der Beitrag gefallen? Es würde mich freuen, wenn du mir ein Feedback gibst und dafür die Kommentarfunktion am Ende des Beitrags nutzt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert