Vier Scheintote und eine Pyramide

Die 200. Kurzgeschichte, die ich in diesem Jahr gelesen habe, ist fast 90 Jahre alt

Als 200. Kurzgeschichte in diesem Jahr1 habe ich »Die Pyramide« von Richard DeWitt Miller (1920-1958) gelesen. Sie erschien in deutscher Übersetzung im Juni 1957 im Utopia Science Fiction Magazin 7, das der Rastatter Erich Pabel Verlag herausgab. Die Originalstory »Within the Pyramid« wurde vor fast 90 Jahren, im März 1937 in den Astounding Stories veröffentlicht und, wie die International Speculative Fiction Database verrät, bis 2011 mehrfach wieder veröffentlicht.

1937 erschien »Within the Pyramid« in Astounding Stories. Illustration: Elliott Dold, Jr.

»Die Pyramide« ist kurz, nicht einmal neun Seiten (A-5-Format) lang. Im Dschungel Yucatáns ist eine »gigantische Pyramide« entdeckt worden. Zwei Forscher – ein Professor der Altertumswissenschaftler, der sich seit zehn Jahre mit ihrem Geheimnis beschäftigt hat, und ein ehrgeiziger Archäologe, der sich von einer Veröffentlichung Ruhm verspricht – dringen ins Innere vor. Dort stehen in einer Kammer vier leere Sarkophage. Der Archäologe ist enttäuscht, aber der Altertumswissenschaftler kennt einen Geheimgang, der zu einer weiteren Kammer weit unterhalb führt.

Dort klärt er den Archäologen auf (wobei nicht verraten wird, woher er dieses Wissen hat). Die Pyramide ist das Werk von Außerirdischen. Sie stammen von einem erdähnlichen Planeten vom Rande des Sonnensystems und sind vor Urzeiten – »als der Mensch noch nicht so weit entwickelt« war, um solche Gebäude zu errichten – auf der Erde gestrandet. In der Hoffnung, dass eine weitere Expedition sie eines Tages suchen wird, haben sie dieses markante Bauwerk quasi als Landmarke errichtet. Einige von ihnen haben sich dank ihrer fortschrittlichen Medizinkenntnisse in Tiefschlaf versetzt und warten seitdem auf ihrer Erweckung.

Illustrator Johnny Bruck hatte wohl keine richtige Vorstellung davon, wie es in einer Maya-Pyramide aussehen könnte. Die Maske links erinnert vage an afrikanische Vorbilder, und rechts sieht man die Totenmaske des ägyptischen Pharaos Tut-ench-amun.

Tatsächlich stoßen die beiden Männer auf vier Särge mit gläsernen Deckeln, darin scheintote Wesen, zwei Männer und zwei Frauen, mit zartgrüner Haut und sechs statt fünf Fingern an jeder Hand. Der Archäologe will einen der Sarkophage mit Gewalt öffnen und seine Entdeckung in die Welt hinausposaunen, wird aber von dem Altertumsforscher überzeugt, es zu lassen, und zwar mit Hilfe einer Mayainschrift in der oberen Kammer. Sie enthält die Information, dass der Planet der Aliens auf seiner sehr exzentrischen Bahn in weniger als hundert Jahren der Erde wieder sehr nahe kommt. Da wäre es angesichts der offensichtlichen technischen Überlegenheit der Fremden, so der Professor, vermutlich nicht gut, »wenn sie ihre dann endgültig toten Brüder in unseren Museen wiederfinden«.

Die Story ist weder besonders gut geschrieben noch wirklich interessant. Sie wartet aus heutiger Sicht aber mit zwei bemerkenswerten Aspekten auf:

  • Die in der Pyramide entdeckte Mayainschrift können die beiden Protagonisten ohne Schwierigkeiten lesen. Als DeWitt Miller die Story Mitte der 1930er Jahre schrieb, kannte man nur die Zahlen und das komplexe Kalendersystem der Maya, konnte die Schrift aber nicht lesen. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch wenn er das möglicherweise gar nicht beabsichtigt hatte, suggeriert der Autor durch die Inschrift, die von den Erbauern der Pyramide hinterlassen wurde, dass die Mayaschrift nicht irdischen Ursprungs ist.
  • »Within the Pyramid« ist ein frühes Beispiel für die sogenannte Präastronautik, also den Glauben, dass in der Vergangenheit Außerirdische auf der Erde gelandet sind und frühe Kulturen beeinflusst haben. Bekanntester Vertreter ist der Schweizer Erich von Däniken. dessen erstes Buch zu dem Thema dreißig Jahre später erschien. Aber auch Walter Ernsting, der »Die Pyramide« ins Deutsche übersetze, hat das Thema aufgegriffen und in seinem ersten, 1955 verfassten Roman »UFO am Nachthimmel«, den er unter dem Pseudonym Clark Darlton verfasste, verarbeitet.

DeWitt Miller war ein Forteaner

DeWitt Miller hatte ein Faible für solche Hirngespinste. Der 1910 in Los Angeles geborene Schriftsteller war ein sogenannter Forteaner, ein Anhänger der Thesen von Charles Fort. Fort war ein eifriger Sammler »ungeklärter Phänomene« wie vom Himmel fallende Frösche, unbekannte Flugobjekte, Kugelblitze, Teleportation, Poltergeister, Out-of-Place-Artefakte und viele mehr. Er hat darüber mehrere Bücher geschrieben, allen voran als Hauptwerk »The Book of the Damned« von 1919, und damit bis heute großen Einfluss in der Szene der Ufologen, Esoteriker und anderer Schwurbler. Eine deutsche Übersetzung gibt es hier.

Fußnote

  1. Ich hatte mir vorgenommen, jeden Tag zwei Kurzgeschichten egal welchen Genres zu lesen, und habe bis zu diesem 116. Tag des Jahres einen Schnitt von 1,7 geschafft. Ich bin also ein wenig im Rückstand. Die 200-Marke hätte ich schon am 10. April erreichen müssen. ↩︎

Hat dir der Beitrag gefallen? Es würde mich freuen, wenn du mir ein Feedback gibst und dafür die Kommentarfunktion am Ende des Beitrags nutzt.

Für den KLP nominiert

SF-Szene meint: »Raketenkraft und Roboterträume« zählte 2024 zu den besten SF-Sachbüchern

Das freut mich sehr: Mein Science-Fiction-Sachbuch »Raketenkraft und Roboterträume« ist von den deutschsprachigen SF-Schaffenden für den Kurd-Laßwitz-Preis 2025 nominiert worden. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich bin gespannt auf den Ausgang der Wahl, die bis zum 15. Mai dauert. Die Konkurrenz – obwohl es in der SF-Szene eigentlich keinen Konkurrenzkampf gibt, wir sind uns alle wohlgesonnen und freuen uns für jeden – ist allerdings groß und zum Teil Ehrfurcht gebietend. Aber es schon auf die Liste der besten SF-Sachbücher des vergangenen Jahres geschafft zu haben, ist eine große Ehre.
Link: Alle Infos zum Kurd-Laßwitzpreis 2025

Hat dir der Beitrag gefallen? Es würde mich freuen, wenn du mir ein Feedback gibst und dafür die Kommentarfunktion am Ende des Beitrags nutzt.

Der Traum vom Mondflug

Vor 100 Jahren herrschte Optimismus bei den Raketenpionieren. Einer von ihnen war Otto Willi Gail.


Otto Willi Gail
Mit Raketenkraft ins Weltenall – Vom Feuerwagen zum Raumschiff
Stuttgart 1928


Mit dem Buch »Mit Raketenkraft ins Weltenall – Vom Feuerwagen zum Raumschiff« als Lektüre habe ich eine wissenschaftliche Reise in eine Zeit unternommen, als Raumfahrt noch ein Traum und vieles, was uns heute an Technik und Wissen selbstverständlich ist, unbekannt war. Das Sachbuch erschien 1928, Autor war Otto Willi Gail. Der Physiker und Journalist, Jahrgang 1896, hatte drei Jahre zuvor den Roman »Der Schuß ins All« veröffentlicht, in dem das erste Mal Raumfahrt realistisch beschrieben wurde.

Das war kein Zufall. Gail hatte Kontakt zu den deutschen Raketenpionieren Hermann Oberth und Max Valier, der wie Gail in München lebte. Die Männer waren befreundet und gehörten zum Verein für Raumschiffahrt, der maßgeblich an der Entwicklung von Raketentechnik beteiligt war und die Idee des Weltraumflugs populär machte. Gails Buch war ein Beitrag dazu.

Es erläutert auf hundert Seiten die physikalischen und technischen Grundlagen der Raumfahrt und gibt Einblick in den Entwicklungsstand der Raketentechnik. Ausführlich werden unter anderem die Versuche mit dem raketenbetriebenen Rennwagen behandelt, die Max Valier in jener Zeit zusammen mit dem Rüsselsheimer Autobauer Fritz von Opel machte. Valier starb 1930 durch eine Explosion bei einem Triebwerkstest und gilt deshalb als erstes Todesopfer der Raumfahrtgeschichte.

Theoretische Grundlagen waren bekannt

Was aus heutiger Sicht an dem Buch fasziniert ist zum einen der Enthusiasmus und die Zuversicht, die es ausstrahlt. Gail und seine Raketenfreunde waren offenbar überzeugt, dass es nur noch wenig Jahre dauern würde, bis der erste Mensch zum Mond fliegt. Dass es passieren würde, stand für sie außer Zweifel. Es war nur eine Frage der Zeit. Dabei unterschätzten sie allerdings nicht nur die technischen Herausforderungen, sondern auch die Kosten.

Der Optimismus lag vor allem darin begründet, dass Mitte der 1920er Jahre alle theoretischen Grundlagen bekannt waren. Die hatte unter anderem der Physiker Hermann Oberth 1923 mit seinem wegweisenden Buch »Die Rakete zu den Planetenräumen« gelegt. Er entwickelte das Konzept der Stufenrakete, setzte auf flüssigen Treibstoff und entwarf Raumstationen als Zwischenstation auf dem Weg zu anderen Welten. Walter Hohmann legte 1925 mit dem Buch »Die Erreichbarkeit der Himmelskörper« die mathematischen Grundlagen für die Flugbahnberechnung. Nach ihm ist die Hohmann-Transfer benannt, der Kurs, den ein Raumschiff nehmen muss, um mit möglichst wenig Energieaufwand von einer Kreisbahn in eine andere zu wechseln.

Andererseits fehlten den Raketenpionieren einiges an Kenntnissen, die heute in der Raumfahrt unerlässlich sind. Man wusste damals zum Beispiel nicht, ob sich Funkwellen im Weltraum genauso ausbreiten wie auf der Erde. Deshalb setzten Oberth und andere für die Kommunikation auf Licht. Signale aus dem Weltraum sollten mit großen Spiegeln zur Erde geschickt werden. Ebenso wenig wurden Fernlenkung oder Automation in Betracht gezogen. Den Raketenstart, so die Vorstellung von Gail, muss die Besatzung »im Führerraum unseres Weltraumkreuzers« einleiten: »Im gleichen Augenblick zuckt die Hand des Führers nach dem Anlasser … Der Hebel fliegt herum. Ein gewaltiger Ruck läßt das Schiff erbeben, die Knallgasfüllung hat sich entflammt und die Düse der Rakete speit donnernd kosmische Gewalten dem versinkenden Festland zu.« (S. 88)

Die Raketenpioniere waren sich der gesundheitlicher Gefahren gerade in der Startphase bewusst. Wegen der starken Beschleunigung sollten die Besatzungsmitglieder in Hängematten, die den Druck abfangen, liegen. Eine Beschleunigung von 40 Meter pro Sekundenquadrat (die vierfache Erdbeschleunigung) hielt Gail für »die Grenze … zwischen Leben und Tod« (S. 88). Um den Antrieb abzuschalten, müssen die Raumfahrer die »unerträglich[e]« Beschleunigungskraft überwinden: »Langsam hebt der Führer den Arm, mit übermenschlicher Anstrengung führt er ihn zum Gashebel, kämpft mühsam um jeden Zentimeter.« (S. 89) Schön dargestellt ist das im Stummfilm »Die Frau im Mond« von 1929 (bei YouTube), an dem Hermann Oberth als Berater mitwirkte. Tatsächlich sind heutige Astronauten und Kampfjetpiloten weitaus höheren Beschleunigungen ausgesetzt, ohne dauerhafte Schäden davonzutragen.

Nur mit fast übermenschlicher Anstrengung gelingt es den Raumfahrern im Stummfilm »Die Frau im Mond«, die Raketentriebwerke abzuschalten. Das Schaltpult ist allerdings auch ungünstig angebracht.

Wenn der Koch den Wein einschenken will

Als völlig unproblematisch für den Körper wurde die Schwerelosigkeit betrachtet. Gail machte sich nur Gedanken darüber, wie das Essen und Trinken funktioniert: »Will sich einer zum Beispiel ein Glas Wein eingießen, so nützt es gar nichts, wenn er die Flasche über das Glas neigt. Der Wein fließt nicht aus, man kann die Flasche kippen soviel man will.« (S. 93). In seinem Roman »Der Schuß ins All« lässt Gail sogar einen Koch mitfliegen, der die Besatzung versorgt. Allerdings schildert er darin nicht, wie dieser die Speisen in der Kombüse zubereitet.

Kein Thema ist bei Gail die kosmische Strahlung. Dabei wurde die sogenannte Höhenstrahlung bereits gut zehn Jahre zuvor vom Ballonfahrer Victor Franz Hess entdeckt. Unklar war zu jener Zeit, was die Ursache war. Dass sie aus dem Weltraum kommt, wurde erst in den 30er Jahren zweifelsfrei festgestellt. Womöglich hielten die Raketenpioniere die gesundheitsschädliche Höhenstrahlung für ein atmosphärisches Phänomen und verschwendeten daran keinen Gedanken.

Nicht ganz so durchdacht wie die Grundlagen des Raketenstarts waren die Überlegungen, wie die Rakete, das heißt deren Oberstufe, nach der gelungenen Mondumrundung auf die Erde zurückkommt. Klar war den Pionieren, dass das Raumschiff stark abgebremst werden muss und dabei hohe Reibungshitze entsteht. Gail verweist auf Hohmann. Dieser »denkt sich die Art der Landung auf der Erde in einer Serie von immer enger an den Erdball heranführenden Bahnellipsen unter vorsichtiger Ausnützung der Bremswirkung der Luft« (S. 81). Am Ende wird mittels Tragflächen in den Gleitflug übergangen. Das ist das Space-Shuttle-Prinzip.

Bremsen mit Blechscheiben

Gail selbst sieht den Wiedereinritt in die Erdatmosphäre so: »[A]us der nach rückwärts gerichteten Schiffsspitze [schiebt sich] ein Kabel ins Freie an dem in kleinen Abständen konisch nach hinten gebogene Blechscheiben, ähnlich den Quasten am Schwanze eines Papierdrachens, aufgereiht sind. Diese Scheiben stemmen sich gegen die Luft, erzeugen hinter dem Schiffe mächtige Wirbel und üben eine starke Bremswirkung aus.« (S. 79) Allerdings verglühen die Scheiben schnell durch die Reibungshitze und immer neue müssen nachgeschoben werden. Dadurch »bleibt das Schiff selbst von übermächtiger Überhitzung bewahrt« (S. 79). Wenn die Rakete weit genug abgebremst ist, kommt ein Fallschirm zum Einsatz. Valier hatte übrigens die Idee, bei Gefahr die »Beobachterkammer« von der Rakete zu trennen und am Fallschirm auf die Erde schweben zu lassen. Nach diesem Prinzip landen bis heute alle Raumkapseln.

Bei den Raketenpionieren war die Landung auf dem atmosphärenlosen Mond übrigens kein Thema. Gail schreibt: »Leicht wird die Landung auf dem Mond nicht sein, und vorerst denkt noch niemand daran.« (S. 81) Aber er war überzeugt, dass »kühne Raumpiloten« das eines Tages versuchen werden. Vier Jahrzehnte später, am 20. Juli 1969, wurde dieser Traum wahr. Die kühnen Raumpiloten waren Amerikaner und hießen Neil Amstrong und Edwin Aldrin.

Hat dir der Beitrag gefallen? Es würde mich freuen, wenn du mir ein Feedback gibst und dafür die Kommentarfunktion am Ende des Beitrags nutzt.