In »Der Koloss aus dem Orbit« von Jacqueline Montemurri und »Born« von Kris Brynn machen die einen Protagonisten eine Zeitreise, die anderen fahren mit dem Taxi.
Romane von Frauen werden werden von Rezensenten und Rezensentinnen sehr viel seltener besprochen als Romane von Männern. Das ist keine steile These, sondern lässt sich anhand von Zahlen belegen, wie Theresa Hannig auf meiner Veranstaltung »Hinterm Mond« am 9. Oktober 2021 deutlich machte. In der Phantastik ist das Verhältnis etwa 1:4. Um daran ein klein wenig zu ändern, werde ich hier auf zwei im September erschienene Romane von Frauen eingehen, die beide zum Erfolg von »Hinterm Mond 2021« beigetrugen: »Der Koloss aus dem Orbit« von Jacqueline Montemurri und »Born« von Regine Bott alias Kris Brynn. Ich habe die Bücher unmittelbar hintereinander gelesen.
Idylle bekommt Risse
Der »Koloss« ist ein Roman, der aus einer gleichnamigen Kurzgeschichte hervorging, mit der Jacqueline Montemurri 2020 den Kurd-Laßwitz-Preis gewonnen hat (der KLP ist eine der beiden wichtigsten deutschen SF-Preise). Darin wird eine Gruppe von gescheiterten Existenzen, darunter als Ich-Erzählerin die ehemalige Journalistin Dysti Adams und der Cyborg Xell, zu einem riesigen Artefakt geschickt, das seit einigen Jahren im Orbit um die Erde kreist. Wie sich herausstellt, ist der Koloss eine Zeitmaschine, mit der Dysti und Xell auf der Flucht vor ihren Auftraggebern 250 Jahre in die Zukunft entkommen können. Sie machen auf der vom Klimawandel größtenteils entvölkerten, deindustrialisierten Erde eine Bruchlandung.
Für Dysti und Xell, die sich erst nicht ausstehen können und dann ein Paar werden, beginnt eine abenteuerliche Reise durch eine ebenso idyllische wie alptraumhafte Welt. Sie treffen auf verschiedene, weitgehend isoliert von einander lebenden Gruppen, die ganz unterschiedliche soziale Strukturen entwickelt haben, um zu überleben. Die Anwesenheit der beiden Fremden aus der Vergangenheit sorgt allerdings dafür, dass die perfekt erscheinenden Fassaden schnell Risse bekommen und die brutalen und zynischen Kehrseiten sichtbar werden. Immer wider gerät das Paar in Lebensgefahr und muss fliehen.
Ein zentrales Thema des Romans ist die Frage nach Identität und Menschsein. Xell ist angesichts seiner zum Teil künstlichen Körperteile und der in seinem Körper aktiven Nanobots (die ihm zum Beispiel erlauben, Schmerzen abzuschalten), verunsichert darüber, ob er noch ein Mensch oder schon ein Roboter ist. Die eigenen Zweifel werden dadurch verstärkt, dass er von seiner Umwelt vor allem als letzteres wahrgenommen und zum Teil bekämpft wird. Andererseits beweist Xell Empathie und zeugt mit Dysti ein Kind. Hier werden von der Autorin elementare Fragen aufgeworfen, auf die es selbstverständlich keine allgemeingültige Antwort gibt.
Jacqueline Montemurri ist eine erfahrene Autorin, der es gut gelingt, ihre Figuren Tiefe zu verleihen und so lebendig zu gestalten, dass sie glaubhaft agieren. Das sind keine glattgebügelten Helden, sondern Menschen mit guten und schlechten Seiten. Das gefällt mir.
Der Schluss, genauer gesagt: die finale Konfrontation mit einem plötzlich auftauchenden Antagonisten und deren Folgen, hat mir nicht gefallen. Er ergibt sich nicht zwingend aus der Handlung, sondern wirkt aufgesetzt und beliebig. In einem klassischen Roadmovie (den Ausdruck hat die Autorin bei der Lesung in Leer zur Charakterisierung der Story benutzt) steuert die Handlung auf ein unvermeidliches Ende zu. Hier ist es nicht so. Dysti und Xell haben jederzeit die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden.
Rasante Fahrt durch die Megacity
An »Born« von Kris Brynn haben mir die schrägen Charaktere sowie Stil und Sprache besonders gut gefallen. In der deutschen SF sind sprachliche Glanzlichter selten, die meisten Autorinnen und Autoren schreiben eher etwas betulich und haben für stilistische und sprachliche Feinheiten kaum Gespür. Bei Kris Brynn ist das anders. Das fängt schon bei den manchmal rätselhaften Kapitelüberschriften wie »Rauchende Colts« oder »Delflopion gekreuzt mit Gloster« an. Dafür gibt’s einen Extra-Stern.
Die Handlung von »Born« ist komplex und kann nicht in wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Nach einem nicht näher beschriebenen Großen Sandkrieg leben die Menschen in Megacitys wie Born. Die Landwirtschaft wird nicht mehr in der Fläche betrieben, sondern in vertikalen Plantagen und Farmen, den VertiPlants und VertiFarms. Sie werden von Bruder- und Schwesternschaften geführt, die sich auf das Alte Testament berufen und das Monopol auf die Lebensmittelversorgung haben. Da liegt Konfliktpotenzial. Es geht um illegale Machenschaften auf dem Agrarsektor, um Schwarzhandel, um Machtspiele, um Politik.
In Born ist die taffe Nalani Taxifahrerin und kutschiert jede Menge merkwürdige Fahrgäste wie Horse, einen Nachtclubbesitzer, durch die Gegend. Sie und ihr Bruder Tomas geraten unabhängig voneinander in ziemliche Schwierigkeiten, ohne zu wissen, wieso und worum es überhaupt geht und wie die Fronten verlaufen. Während Tomas nach einer Versetzung auf eine VertiFarm völlig überfordert seine Schwester um Hilfe bittet, nimmt Nalani mit Unterstützung ihrer Freunde vom Rand der Gesellschaft den Kampf auf, um sie beide rauszuhauen.
Klar ist (für die Leser), dass das alles zusammenhängt und Teamleiterin Lorna, die zufällig in Nalanis Taxi landet, auf der anderen Seite steht. Lorna erledigt die Dreckarbeit für das wichtige Ernährungsministerium, liebt Luxus und hasst Geräusche aller Art, egal ob beim Essen, beim Laufen oder beim Sex, und hat auch sonst einige merkwürdige Angewohnheiten. Aber auch für sie läuft es nicht glatt. Damit ist die Parade der skurrilen Figuren aber noch nicht erschöpft. Normale Menschen kommen, abgesehen von Tomas, in dem Buch gar nicht vor. Gibt’s die in Born nicht?
Der heimliche Star des Buches ist Fergus, der allerdings ein großes Handicap hat: Er ist eine Künstliche Intelligenz, ein Kfz-Notfall-Hologramm, das Autofahrern bei einer Panne helfen soll. Fergus nimmt den Beifahrersitz von Nalanis Taxi in Beschlag, weil man ihn nicht mehr abschalten kann, ist lernfähig, wissbegierig, redet gerne und viel und ist ein Fan von James Cagney und anderen alten Filmstars (Dass da eine Vorliebe der Autorin ins Spiel kommt, ist offensichtlich). Fergus ist genial. Da stört es mich nicht, dass die KI für ihre Aufgabe völlig überqualifiziert ist (Im wirklichen Leben würde kein Autobauer so einen Aufwand für eine simple Pannenhilfe betreiben, weil das viel zu teuer wäre).
Fazit: »Born« sollte man unbedingt lesen. Das Buch macht Spaß, es hat Tempo und Witz.
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