Wer über die große Treppe ins alte Rathaus von Leer kommt, wird wahrscheinlich links vom Eingang an der Basis des Turmes das große, in Sandstein gehauene Wappen bemerken. Aufmerksame Beobachter werden aber ein weiteres, davon völlig unterschiedliches Wappen entdecken. Diese vergoldete Arbeit verziert das schmiedeeiserne Balkongitter über dem Haupteingang. Man könnte meinen, Leer habe zwei Wappen.
Das Relief stammt, wie eine Inschrift bekundet, aus dem Jahr 1892, das Rathaus selbst wurde am 29. Oktober 1894 offiziell eingeweiht, mehr als ein Jahr nachdem die Verwaltung in das Gebäude eingezogen war.
Der Neubau war Ende des 19. Jahrhunderts erforderlich geworden, weil auf die Stadt immer mehr Aufgaben zugekommen waren und die Zahl der Bediensteten gestiegen war. Eine Erbschaft ermöglichte es der Stadt Ende der 1880er Jahre, mit der konkreten Planung zu beginnen. Bei einem Architektenwettbewerb wurde der Entwurf des Aachener Architekturprofessors Friedrich Wilhelm Henrici (1842-1927) mit dem ersten Preis bedacht. Das Wappen ist darin bereits an seinem zukünftigen Platz neben der Trppe eingezeichnet.
Betritt der Besucher das Rathausvestibül und richtet den Blick zur Decke, wird er das Wappen als Deckenmalerei wiederfinden. Diese stammt, wie die übrige, sehr repräsentative Wand- und Gewölbemalerei, von dem Stuttgarter Robert Nachbauer. Im Treppenhaus hängt zudem ein Exemplar aus Holz.
Dieses Wappen wurde Leer, das erst 1823 Stadtrechte erhalten hatte, 1861 von König Georg V. von Hannover verliehen. In der Stiftungsurkunde wird es beschrieben: »Es zeigt im rothen Felde ein silbernes Kastell, über welchem ein goldener Löwe schreitet, ferner auf einem an das Thor des Kastells gelehnten rothen Schilde das weisse Pferd Unseres Königlichen Wappens.« Das Wappen wurde nach der Annexion des Königreichs Hannover, zu dem Ostfriesland seit 1815 gehörte, durch Preußen 1866 beibehalten.
Nicht mehr zeitgemäß
Bis 1950: Fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das alte Wappen als nicht mehr zeitgemäß angesehen und wegen seiner Verschnörkelungen abgelehnt. Verschnörkelt ist allerdings nur das »große« Stadtwappen, bei dem das Wappenschild ein so genanntes Oberwappen mit Helm, der Helmzier in Form eines Ankers und dem rankenförmigen Helmdecken hat, so wie es im Vestibül zu sehen ist.
Jedenfalls beschloss der Stadtrat am 14. Juli 1950 die Einführung eines neuen Wappens. Es wurde von dem Oldenburger Staatsarchivdirektor Dr. Hermann Lübbing in Anlehnung an das alte, seit Mitte des 17. Jahrhunderts bekannte Siegel des Fleckens Leer entworfen. Das L mit seinen geschwungenen Enden wird häufig als Symbol für den Zusammenfluss von Ems und Leda gedeutet.
Im Dezember des Jahres war es soweit. Die Hauptsatzung der Stadt wurde geändert. Dort heißt es seitdem: »Die Stadt Leer führt ein Wappen, das aus einem Schild besteht, das auf einem blauen Grund in der Mitte ein silbernes L enthält. Links und rechts von dem senkrechten Schaft des L befinden sich zwei silberne Sterne und in der Mitte oben über dem L ein silbernes Röschen.«
Fünf Jahre später, so lässt die einstanzte Zahl 55 vermuten, wurde das vergoldete Wappen über dem Rathauseingang angebracht. Zu sehen ist es auch im Vestibül auf einer Tafel, die auf die Städtepartnerschaften von Leer aufmerksam macht.
Ein besonders rustikales Exemplar des neuen Wappens kann der Rathausbesucher sich ansehen, wenn er den Altbau durch den Hintereingang verlässt und über den Hof zum Neubau aus dem Jahr 1983 geht. Dort ziert ein in Holz geschnittenes »L« die Eingangstür des zweckmäßigen Verwaltungsbaus.
Quellen: schriftliche Mitteilung der Stadt Leer vom 4. November 1996; Stadt Leer (Hrsg.): 100 Jahre Rathaus Leer. 1894-1994. Leer 1994.