Retro-SF: Beim Stöbern im Internet bin ich auf die SF-Kurzgeschichte »The Comet« gestoßen. Der schwarze Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois schrieb sie 1920.
Für die schnelle Lektüre zwischendurch, etwa wenn es sich gerade nicht lohnt, noch ein neues Buch anzufangen, oder um Wartezeiten zu überbrücken, habe ich immer einen kleinen Vorrat an Kurzgeschichten auf dem E-Book-Reader. Überwiegend handelt es sich um englischsprachige Storys, die es kostenlos im Internet gibt. Das Angebot ist groß und interessant. Manche Seiten besuche ich regelmäßig. Manchmal finde ich, vor allem bei älteren Storys, auch nur einen Hinweis und muss ein wenig suchen.
Obwohl sie für die schnelle Lektüre gedacht sind, mache ich mir sogar die Mühe, die Storys in ordentliche E-Books umzuwandeln, und gestalte eigene Titelbilder. Mit der richtigen Software ist das kein großer Aufwand, außerdem macht es Spaß, und man bleibt in der Übung.
Eine dieser Storys, die ich aufgrund eines Hinweises des Bloggers James W. Harris (Classic of Science Fiction) gefunden und gelesen habe, ist »The Comet« von W. E. B. Du Bois (1868-1963). Der Afroamerikaner war Historiker, Sozialist, Bürgerrechtler, Schriftsteller und vieles mehr. Er war 1909 Mitbegründer der National Association for the Advancement of Colored People. Ende des 19. Jahrhunderts hat Du Bois an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, der heutigen Humboldt-Universität, gelehrt. Ende 2018 war ihm anlässlich des 150. Geburtstags eine dreitägige Veranstaltungsreihe am Theater Hebbel am Ufer in Berlin gewidmet. In dem Tagungsband gibt es eine deutsche Übersetzung der Kurzgeschichte (Danke für den Hinweis, @metaphernpark).
»The Comet« spielt in New York. Die Erde gerät in den giftigen Schweif eines Kometen. Alle Menschen sterben, bis auf den Afroafrikaner Jim und die reiche weiße Julia. Jim war im Keller einer Bank, für die er als Laufbursche arbeitete, von der Außenwelt abgeschottet, die junge Weiße in ihrem Appartement in einer Dunkelkammer, in der sie Fotos entwickelte. Jim hört ihre Hilferufe, als er durch die mit Leichen übersäte Stadt irrt. Anschließend machen sie sich im Auto der Frau gemeinsam auf die Suche nach Überlebenden. Angesichts der Katastrophe, die über die Stadt hereingebrochen ist, und der Hoffnungslosigkeit kommen sie sich näher und bauen gegenseitige Vorbehalte ab. Aber dann, im Haus von Julias Eltern, wo der Butler und die Hauswirtschafterin tot im Treppenhaus liegen, hören sie Motorgeräusche. Julias Vater und ihr Verlobter sind von einer längeren Ausfahrt mit dem neuen Auto des Verlobten zurückgekehrt. Nur New York selbst war von dem tödlichen Gas getroffen worden. Julia, die nicht undankbar Jim gegenüber ist, fällt in die Arme ihres Verlobten, der Vater drückt dem Schwarzen zum Dank Geld in die Hand, und eine plötzlich aufgetauchte Menschenmenge kann gerade noch davon abgehalten werden, ihn zu lynchen. Denn ein Schwarzer als vermeintlich letzter überlebender Mann in New York, das geht gar nicht.
Die Story erschient 1920 im Sammelband »Darkwater« , in der auch die Geschichte »Jesus Christ in Texas« enthalten ist. Wegen dieser fantastischen Themen gilt Du Bois als einer der Wegebereiter dessen, was 70 Jahre später Afrofuturismus genannt wird. Das Hauptthema der Sammlung ist der Rassismus in den USA.
Pillen gegen giftigen Kometendunst
»The Comet« ist stilistisch sicher erzählt und zeigt, dass Du Bois zu den führenden afroamerikanischen Schriftstellern seiner Zeit gehörte. Die Story lässt sich noch immer gut lesen und überstrahlt Genre-Storys mit ähnlichen Plots aus der Pulp-Ära der späten 1920er und den 1930er Jahren bei Weitem. Das apokalyptische Setting ist typisch SF und für seine Zeit plausibel: Dass Kometenschweife giftige Gase enthalten könnten, galt als möglich. Diese Annahme geht wohl auf den griechischen Philosophen Aristoteles zurück, und noch 1910 wurden bei der Rückkehr des Halleyschen Kometen Pillen gegen den giftigen Kometendunst verkauft. Wahrscheinlich ist Du Bois von diesem Himmelsereignis zu seiner Kurzgeschichte inspiriert worden. Das Thema »Letzter Mensch auf Erden« ist so alt wie die Science Fiction, denn schon Mary Shelley hat mit »The Last Man« 1826 einen postapokalyptischen Roman veröffentlicht, auch wenn in diesem Fall die Katastrophe durch die Pest und nicht durch Gift ausgelöst wurde.
Allerdings ist der Schluss von »The Comet« enttäuschend. Jim und Julia dürfen die Rassengegensätze nicht überwinden und zu neuen Adam und Eva werden. Stattdessen löst sich die Geschichte im Nichts auf, und alles bleibt, wie es war. Wahrscheinlich war die Zeit für mehr als eine Andeutung noch nicht reif.
Dennoch, die Lektüre hat gelohnt. Ich habe wieder etwas über eine interessante Persönlichkeit gelernt und meinen Horizont erweitert. Kann man von einer Kurzgeschichte mehr erwarten?