Der junge Yusuf lebt in einer Welt kurz vor dem Untergang. Davon handelt der Roman »Paradise« des tansanischen Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah.
Der Roman »Paradise« von Nobelpreisträger Abulrazak Gurnah von 1994 hat mich literarisch über den Jahreswechsel 2021/2022 begleitet. Er spielt am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Ostafrika zwischen dem Indischen Ozean, dem Kilimandscharo-Massiv und den großen Seen am Rande des Kongobeckens. Gurnah erzählt die Geschichte vom Erwachsenwerden des jungen Yusuf vor dem Hintergrund einer sich durch das Ausbreiten des europäischen Kolonialismus verändernden Welt. Der Roman ist sehr vielschichtig.
Der elfjährige Yusuf kommt Anfang des 20. Jahrhunderts als rehani in den Haushalt des Kaufmanns Aziz und muss in dessen Laden arbeiten, weil sein Vater, ein gescheiterter Kaufmann und Hotelier, seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Nach einigen Jahren begleitet Yusuf seinen »Onkel« Aziz auf einer dessen Karawanen, die quer durch das heutige Tansania (von 1885 bis 1918 Deutsch-Ostafrika) ins westliche Kongogebiet führt und fast in einer Katastrophe endet. Yusuf lernt lesen und schreiben, erhält Koran-Unterricht, macht erste sexuelle Erfahrungen und gerät nach seinen Rückkehr in den Bann von Aziz‘ Frau, die von dem schönen Jungen Heilung für ihr entstelltes Gesicht erhofft. Als Aziz ihn schließlich aus seiner Abhängigkeit entlässt, weil sein Vater gestorben und seine Mutter unbekannt verzogen ist, fehlt dem jetzt 18-Jährigen jeder Halt und jede Perspektive. Yusuf folgt einer Kompanie der deutschen kolonialen »Schutztruppe«, die für den bevorstehenden Krieg Einheimische als Träger in ihren Dienst presst.
Beitrag zur Kolonialismus-Debatte
Mich fasziniert besonders die kulturhistorische Perspektive des Romans, die einen Beitrag zur postkolonialen Debatte liefert. In Deutschland ist dieses vergleichbar kurze Kapitel der Landesgeschichte kaum noch in der Gesellschaft präsent und erst recht nicht aufgearbeitet, vermutlich verdrängt durch die viel tiefer sitzenden Traumata, die zwei Weltkriege, die Naziherrschaft, der Holocaust und die deutsche Teilung hinterlassen haben.
Aziz und Yusufs Familie gehören wie Gurnahs Vorfahren (er wurde 1948 auf der ostafrikanischen Insel Sansibar geboren) zur polyethnischen, urbanen Suaheli-Kultur aus Arabern, Indern und Schwarzafrikanern, die sich über Jahrhunderte an der ostafrikanischen Küste entwickelt hat. Die arabischstämmigen Kaufleute ziehen mit ihren Träger-Karawanen tief ins Innere des Kontinents, um mit den – aus ihrer Sicht – Wilden zu handeln. Sie tauschen Tuche, Stoffe und Werkzeuge gegen Elfenbein, Gold, Rhinozeros-Horn und Gefangene, die an der Küste als Sklaven verkauft werden. Unterwegs müssen sie den örtlichen Herrschern Wegezoll zahlen, um handeln und deren Gebiet unbehelligt passieren zu dürfen. So haben die Händler nur die Wildnis zu fürchten, tückische Sümpfe, gefährliche Tiere, bissige Insekten und Krankheiten.
Niemand kann sie aufhalten
Das System hat sich eingespielt, es ist für alle lukrativ (von den Sklaven abgesehen) und hat die Kaufleute reich gemacht. Da tritt ein Störfaktor auf, der es zusammenbrechen lässt: die Europäer. In Gurnahs Roman treten sie in persona zwar kaum in Erscheinung, aber ihr Einfluss ist überall und für alle spürbar. Die Einheimischen haben einen höllischen Respekt vor ihnen: »The Germans were afraid of nothing. They did whatever they wanted and no one could stop them.« Die deutsche Kolonialmacht verbietet die Sklaverei und den Wegezoll, und durch den Eisenbahnbau macht sie den zeitaufwändigen Karawanenhandel unrentabel und entzieht damit der Suaheli-Kultur eine wichtige wirtschaftliche Grundlage. Den Händlern ist das klar: »But there will be no more journeys now the European dogs are everywhere«, ist sich Aziz‘ Karawanenführer Mohammed Abdallah sicher.
Unklar ist mir, ob Gurnah mit der Darstellung der Geografie im Roman etwas beabsichtigt hat. Es gibt reale und fiktive Elemente, manche Orte sind konkret benannt, aber nicht lokalisierbar, andere nur umschrieben (»a small town under a huge snowcapped mountain«), aber identifizierbar, ohne dass hinter allem ein System erkennbar wäre. Sogar eine ziemlich präzise zeitliche Einordnung auf die letzten sechs oder sieben Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist durch Angaben zum Eisenbahnbau möglich. Die wenigen konkreten Beschreibungen reichen aber aus, um die Geschichte zu verorten und Yusufs Weg und die Route der Karawane zu folgen. Ich frage mich, wieso Gurnah das dann so verklausuliert hat. Ist das Yusufs Perspektive, der nur die Ortsnamen kennt, die er von anderen hört, und sonst wenig von der Welt weiß?
Die Suche nach dem Paradies
Warum heißt der Roman »Paradise«? Da gibt es eine Reihe von Bezügen, durch die Gurnah Einblicke in das Verhältnis der Glaubensgemeinschaften untereinander gibt. Alle sind auf der Suche. Während es für die Muslime wie den Kaufmann Hamid Suleiman, bei dem Yusuf ein Jahr verbringt, ein spiritueller, aber potenziell realer Ort ist, spottet der Inder Kalasinga, ein Hindu: »I’ll be in Paradise screwing everything in sight, Allah-wallah, while your desert God is torturing you for all your sins.« Für Yusuf ist das Paradies zunächst der ummauerte Garten an Aziz‘ Haus, und später verortet er es als Ort der Verheißung tief im Inneren des Kontinents; die rot leuchtenden Klippen am Westufer des Tanganjikasees kommen ihm wie flammende Tore zum Paradies vor. Aber, fragt ihn sein Gefährte Kahlil, als ihm Yusuf von seinen Erlebnissen dort erzählt: »And who lives in this Paradise? Savages and thieves who rob innocent traders and sell their own brothers for trinkets.« Offenbar ist das Paradies kein Ort mehr, an dem man in Frieden leben kann.
Sehr gut gefallen hat mir Gurnahs unaufgeregte, wohlklingende Sprache. Das Lesen macht einfach Spaß. Wer seine Nobelpreis-Vorlesung gehört hat, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie der Roman klingt. Absolut lesenswert.
- Der Roman ist mit dem Titel »Das verlorene Paradies« inzwischen auf Deutsch vom Penguin-Verlag neu aufgelegt worden.
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