Die große Leere ab 2000

In den letzten zwei Jahrzehnten ist nur eine Science-Fiction-Kurzgeschichte auf Deutsch erschienen, die mit dem »Hugo« ausgezeichnet wurde. Davor war das ganz anders.

Die Rakete symbolisiert den »Hugo«.

Nein, die Überschrift bezieht sich nicht auf das Niveau der Perry-Rhodan-Serie seit Band 2000, obwohl »Die große Leere« mal ein Schauplatz im Perryversum war. Als Ergänzung zu meinem Blogpost über »Es gibt keine Anthologien mit internationalen Science-Fiction-Storys mehr« habe ich mir vielmehr angesehen, was an Werken, die mit dem »Hugo« ausgezeichnet wurden, ins Deutsche übersetzt wurde. Das Ergebnis ist bezeichnend.

In dem Post über die Anthologie »Fernes Licht« habe ich unter anderem festgestellt, dass 2002 im Heyne-Verlag nach gut vier Jahrzehnten das letzte Mal eine Anthologie mit ausgewählten englischsprachigen SF-Kurzgeschichten erschienen ist; andere Verlage hatten schon Jahre vorher aufgegeben. Das Ende dieser Tradition steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Umstand, dass der Verlag verkauft worden und Herausgeber Wolfgang Jeschke in Rente gegangen ist. Die Jahrtausendwende stellt also einen Einschnitt dar. An diesem Punkt ist, was die Veröffentlichung von kurzen SF-Werken angeht, Schluss. Für die Langformen gilt das nicht.

Werfen wir also einen etwas genaueren Blick auf die Übersetzungsfrage. Das gelingt mit Hilfe des Wikipedia-Eintrags über den Hugo. Dort sind zu allen Hugo-Gewinnern die Übersetzungen ins Deutsche genannt (hoffentlich vollständig, ich habe das nicht geprüft). Der »Hugo«, der eigentlich Science Fiction Achievement Award heißt, wird seit 1953 auf dem alljährlichen Worldcon verliehen und gilt als wichtigster Preis für SF. Es gibt vier Hauptkategorien: Best Novel, Best Novella, Best Novellette und Best Short Story.

Alle Sieger-Romane wurden übersetzt

Von den Best Novels (das sind Romane mit mehr als 40.000 Wörtern), der wichtigsten Kategorie, sind bisher ausnahmslos alle Preisträger in deutscher Übersetzung erschienen (wenn oft auch mit einigen Jahren Verzögerung), zuletzt »A Desolation Called Peace« (deutsch: »Am Abgrund des Krieges«, Heyne-Verlag) von Arkady Martine, der Siegertitel von 2022. Da ist man einigermaßen auf dem Laufenden.

Die Kategorie Best Novella (auf Deutsch könnte man von einem Kurzroman sprechen) ist für Werke zwischen 17.500 und 40.000 Wörtern. Hier wurden bis Ende des 20. Jahrhunderts nur vier Siegertitel nicht ins Deutsche übersetzt. Seit 2000 erschienen zehn von 22 Titeln in deutscher Übersetzung.

Best Novellette ist die Kategorie mit Werken zwischen 7500 und 17.500 Wörtern (hierfür gibt es eigentlich kein passendes deutsches Wort; Wikipedia nennt es »Erzählung«). Bis 1999 wurde nur eine Handvoll Storys nicht übersetzt. In den Nullerjahren 2000-2009 sind es vier gewesen. Danach wurde nur eine einzige hugoausgezeichnete »Novellete« ins Deutsche übersetzt: der Gewinner von 2016, »Folding Beijing« von Hao Jingfang (deutsch: »Peking falten«, Elsinor-Verlag).

Es dürfte niemand wundern, dass diese Entwicklung vor den Kurzgeschichten nicht haltgemacht hat. Bis 1999 wurden fast alle Siegertitel der Kategorie Best Short Story auf Deutsch veröffentlicht, häufig in den deutschen Ausgaben der Magazine, in der die Originale erschienen (es fehlen nur sechs Storys) – danach nur eine: »Exhalation« von Ted Chiang, Sieger von 2009, als »Ausatmung« in den Chiang-Storysammlungen »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes« und »Die große Stille« des Golkonda-Verlags.

So sieht es bei den Nebula Awards aus

Bei den Nebula Awards, die von den Science Fiction and Fantasy Writers of America verliehen werden und neben den Hugos die wichtigste Auszeichnung für SF sind, sieht es ähnlich aus (Wikipedia-Eintrag). Während die als Best Novel ausgezeichneten Werke fast alle auf Deutsch erschienen sind und bei den Novellas in den 2000er Jahren nur einige Lücken auftreten, sind in der Kategorie Best Novelette seit 1996 nur sechs Siegerstorys auf Deutsch erschienen (als letzte der Sieger von 2008, »The Merchant and the Alchemist’s Gate« von Ted Chiang; deutsch: »Der Kaufmann am Portal des Alchemisten« in den schon genannten Golkonda-Bänden). Die jüngste auf Deutsch erschienene Sieger-Shortstory ist die von 1996, »Death and the Librarian« von Esther M. Friesner. Sie erschien als »Der Tod und die Bibliothekarin« in Asimovs Science Fiction 50 im Heyne-Verlag.

Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich an dieser Entwicklung etwas ändern wird.

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Tausend Seiten mit SF-Perlen

Es ist doch irgendwie schade, dass es keine Science-Fiction-Anthologien wie »Fernes Licht« mehr gibt.

Vor mehr als 20 Jahren erschien »Fernes Licht« im Heyne-Verlag. Es war eine der letzten Anthologien mit englischsprachiger SF in einem großen deutschen Verlag.

Vor einigen Tagen fiel mir beim Umsortieren meiner Bücher die Anthologie »Fernes Licht« aus dem Jahr 2000 in die Hände – und ich habe mich festgelesen. Mit 29 Storys auf 1050 Seiten – von Nelson Bonds »Der Sokrates vom Rübenfeld« von 1946 bis Maureen F. McHughs »Schutzhaft« von 1992 – werden uns Lesern jede Menge SF-Perlen geboten.

Herausgeber war, wie könnte es anders sein, Wolfgang Jeschke, der neben der Perry-Rhodan-Redaktion über Jahrzehnte wie kein anderer die Lesegewohnheiten der Science-Fiction-Leser im deutschsprachigen Raum geprägt hat. Anlass für den Wälzer war das 40-jährige Bestehen der SF-Reihe im Münchner Heyne-Verlag, die 1960 mit »Die Triffids« von John Wyndham begonnen hatte. Er enthält eine subjektive Auswahl dessen, was unter Jeschkes Ägide an englischsprachigen SF-Shortstories in zahlreichen Anthologien bei Heyne erschienen ist.

Beim Lesen bin ich systematisch vorgegangen. Ich habe mit der kürzesten Geschichte angefangen (»Das Ding« von Donald A. Wollheim, sechs Seiten) und mich bis zur längsten (»Drücke Enter ■« von John Varley, 87 Seiten) vorgearbeitet. Auf die einzelnen Storys will ich nicht eingehen. Dafür sind es zu viele, und es sind viele bekannte Geschichten darunter wie »Geliebtes Fahrenheit« von Alfred Bester, »Weitersegeln! Weitersegeln!« von Philip José Farmer oder »Das Gernsback-Kontinuum« von William Gibson, die jeder halbwegs gut sortierte SF-Fan im Regal stehen haben dürfte und über die schon viel geschrieben wurde. An einige konnte ich mich lebhaft erinnern, obwohl die erste Lektüre lange zurückliegt, andere hatte ich völlig vergessen. Am meisten beeindruckt hat mich »Schwarzschild-Radius« von Connie Willis. Die Story spielt in einem Schützengraben im Ersten Weltkrieg. Platz 2: »Erster Auftritt: Soldat. Darauf: Ein Anderer« von Robert Silverberg wegen der ausgefeilten Dialogtechnik.

Das Ende der Anthologien

»Fernes Licht« markiert beinahe den Endpunkt der langen Publikationsgeschichte von Anthologien und Magazinen mit internationaler, vor allem angloamerikanischer SF in deutschen Verlagen im Allgemeinen und bei Heyne im Besonderen. Im selben Jahr wurden die seit 1963 laufende Reihe »The Best Stories from The Magazine of Fantasy & Science Fiction« mit Band 101 und die Reihe »Asimov’s Science Fiction« (55 Ausgaben seit 1978) eingestellt (die Originale gibt es bis heute). Als letzte Anthologie brachte Heyne »Ikarus 2002« heraus; alle anderen Verlage hatten schon lange vorher die Finger von Anthologien gelassen. Seitdem fehlen diese Quellen ausgesuchter guter SF-Kurzprosa aus Übersee in deutscher Übersetzung, man findet sie nur noch vereinzelt.

Man kann sich zwar heute fast alles via Internet selbst ins Haus holen, aber dazu muss man mindestens einigermaßen gut Englisch können, sich durch eine Vielzahl regelmäßig erscheinender Print- und Onlinemagazine wühlen und trotz zahlreicher kostenlose Angebote einiges an Dollar auf den Tisch legen, um einen Überblich zu haben. Diese Arbeit hatten uns Wolfgang Jeschke und Co. abgenommen. Da diesen Aufwand zu betreiben nur eine kleine Gruppe von SF-Lesern in der Lage und bereit ist, hat der große Rest keine Ahnung, was jenseits des eigenen Tellerrandes auf diesem Gebiet los ist. Man sagt nicht ohne Grund, dass die Kurzgeschichten die Experimentierfelder für die SF sind und die Trends der Romanveröffentlichungen, von denen es ein kleiner Teil als Übersetzungen zu uns schaffen, vorwegnehmen.

Es fehlt an Substanz

Was mir auch wieder bewusst geworden ist: Auch wenn »Fernes Licht« kein »Best of« der englischsprachigen Nachkriegs-SF in Kurzform ist (weil nur Storys berücksichtigt wurden, die bei Heyne erschienen sind) – eine solche Anthologie wird es für deutschsprachige SF wohl nie geben. Man müsste sich als Herausgeber nicht nur mühselig die Rechte zusammensuchen, sondern es fehlt auch an Substanz, vor allem in den frühen Jahren. Eine Kurzgeschichte wie »Geliebtes Fahrenheit« hätte in Deutschland 1954 und auch viele Jahre danach kein SF-Schriftsteller hinbekommen (und eine Möglichkeit, sie zu veröffentlichen, hätte es erst recht nicht gegeben).

Am nächsten kommt diesem vermeintlichen Desiderat die Anthologie »Die Stille nach dem Ton« von 2012 (herausgegeben von Wolfgang Jeschke und Ralf Boldt), die alle Storys enthält, die zwischen 1985 und 2012 mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis in der Kategorie »Kurzgeschichte« ausgezeichnet wurden. Wobei gleich eingeschränkt werden muss: Nur zwei dieser Geschichten – beide ausgerechnet von Jeschke – sind auch mit dem Kurd-Laßwitz-Preis, dem anderen Literaturpreis für deutschsprachige Science-Fiction, ausgezeichnet worden. Es gibt eben nicht nur ein »Best of«.

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Das ist schon ein beeindruckender Wälzer

Der Leipziger Freundeskreis Science Fiction ist 30 Jahre alt geworden. Das Buch zum Elstercon 2022 ist deshalb besonders dick – und gehaltvoll.

Das Titelbild zum Elstercon-Buch 2022 ist von Mario Franke.

(N)IRGENDWO (N)IRGENDWANN Utopie und Humor. Begleitband zum Elstercon 2022. Hrsg. vom Freundeskreis Science Fiction Leipzig | 518 S. | 25 €

Immer wieder beeindruckt bin ich von den Con-Büchern, die der Freundeskreis Science Fiction Leipzig zu seinen alle zwei Jahre stattfindenden Elstercons herausgibt. Zum 30-jährigen Bestehen des Vereins, das mit dem 16. Elstercon Mitte September 2022 gewürdigt wurde, ist der jüngste Band mit dem Titel »(N)IRGENDWO (N)IRGENDWANN Utopie und Humor« mit mehr als 500 Seiten besonders üppig ausgefallen. Ein Wälzer, ein Prachtband.

Con-Buch trifft es nicht wirklich; die Herausgeber nennen die Bücher Anthologien. Tatsächlich ist es eine Mischung aus Con-Buch, Kurzgeschichten-Anthologie und Essayband mit Illustrationen. Das Conbuchhafte machen die Kurzportäts der Ehrengäste und eine Seite mit Platz für deren Autogrammen aus. Wer die Hardcover-Ausgabe gewählt hatte (das Softcover ist stets im Conbeitrag enthalten), musste sich nicht einmal selbst um die Unterschriften kümmern; das machte das Orga-Team.

Was dieses »Con-Buch« von vielen anderen unterscheidet, ist die hohe Qualtität der Beiträge. Denn hier sind nicht neben einigen Profis vor allem Fans als Gelegenheitsschreiber vertreten, sondern eine illustre Runde von Autorinnen und Autoren, für die Schreiben mehr als Hobby ist und die teilweise schon seit Jahrzehnten zu den festen Größen der deutschen SF-Szene gehören, gibt sich die Ehre. Zum jüngsten Band etwa haben Karlheinz Steinmüller, Monika Niehaus, Uwe Post und Arno Behrend Kurzgeschichten beigesteuert, um nur einige der insgesamt zwölf Autorinnen und Autoren zu nennen.

Den Sachteil bilden Rezensionen von Werken der Ehrengäste, Interviews mit einigen von ihnen und thematische Beiträge zum Schwerpunkt Utopie; besonders umfangreich ist dabei mit mehr als 120 Seiten ein Artikel von Arnulf Meifert, in dem es um Utopia, ihrem Ende und dem Erwartenbaren geht, ausgefallen. Das Buch ist reich bebildert, heraus ragen dabei die zahlreichen ganzseitigen Illustrationen, die allesamt von Dirk Berger, Mario Franke und Thomas Hofmann stammen.

Bisher habe ich nur ein, zwei Kurzgeschichten und das eine oder andere Kurzporträt gelesen. Seit dem Elstercon 2022 ist noch zu wenig Zeit für dieses umfangreiche und vielfältige Werk vergangen. Ich werde es vorerst in Griffweite lassen, damit ich es immer wieder mal zur Hand nehmen kann.

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