Wenn der Erlöser Jerry heißt

»Imperium Atlantis« von 1965 ist ein dilettantisch geschriebener SF-Heftroman. Aber es steckt mehr Gehirnschmalz darin, als zunächst sichtbar ist.

»Imperium Alpha« von Ernest G. Black erschien 1965 als Utopia Zukunftsroman. Das Titelbild ist von Rudolf Sieber-Lonati.

Ursprünglich wollte ich mich nur ein wenig über den »Schrott« aufregen, der früher als deutschsprachige Science Fiction in Heftenromanreihen wie Utopia oder Terra veröffentlicht wurde, nachdem ich »Imperium Atlantis« von Ernest G. Black gelesen hatte. Ich hätte von »Schulaufsatzniveau« und »Dilettantismus« geschrieben und als Kontrast auf die gleichzeitige Entwicklung der sogenannten New Wave in der britischen SF hingewiesen. Aber nach einigem Nachdenken bin ich zu einem differenzierterem Urteil zumindest über diesen Roman gekommen. Was zu diesem länger als geplanten Text geführt hat.

»Imperium Atlantis« ist 1965 als Nummer 446 in der Reihe Utopia Zukunftsromane des Rastattter Pabel-Verlag erschienen. Ich hatte ihn vor ein paar Monaten zusammen mit anderen Heftromanen aus einem Nachlass bekommen und wegen seines Titels ausgewählt, weil ich mich kürzlich einige Zeit (wegen der ab März 2022 erscheinenden Perry Rhodan-Miniserie Atlantis) mit dem Atlantis-Thema in der SF beschäftigt hatte. Der Titel ist allerdings irreführend. Atlantis kommt nur an zwei Stellen im Hintergrund vor und spielt für die Handlung keine Rolle.

Ernest G. Black ist laut der Internationalen Science-Fiction-Datenbank das Pseudonym von Ernst Schwarz. Über den Autor habe ich nichts in Erfahrung bringen können. Er hat außer »Imperium Atlantis« offenbar nur einen weiteren Roman veröffentlicht, »Raumschiff des Todes«, der 1966 ebenfalls als Utopia-Heftroman und direkte Fortsetzung erschienen ist.

Drei Tote werden von Aliens entführt

Der Roman hat drei Teile:

  1. Drei Menschen, die zufällig zur exakt derselben Uhrzeit sterben, finden sich gemeinsam quicklebendig an Bord eines Raumschiffes der nichthumanoiden Pfuthars wieder. Jerry King ist ein junger Ingenieur, der auf offener Straße erschossen wird. Samuel Connory ist ein mutmaßlicher Mörder, der auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wird. Corinna Banthorpe stirbt an Leukämie. Die Aliens wollen die Erde unterwerfen und mit Hilfe der drei Entführten deren Schwächen herausfinden, ›»um einen Ansatzpunkt für eine humane Vernichtung zu finden« (S. 15). Nach außen hin werden Jerry, Samuel und Corinna wie geduldete Gäste behandelt. Sie dürften sich frei auf dem Schiff bewegen. Als Schicksalsgemeinschaft planen sie die Flucht, auch auf die Gefahr hin, ihr Leben zu verlieren, als das Raumschiff der Pfuthars angegriffen wird und auf einem fremden Planeten abstürzt.
  2. Jerry, Corinna und Samuel können sich in die Dunkelheit der Nacht retten, bevor das Alien-Raumschiff explodiert. Dabei werden sie getrennt, die Schicksalsgemeinschaft zerbricht. Jerry und Corinna (die im Laufe des Romans bis zur Unsichtbarkeit verblasst) treffen auf Armon, den Anführer der Atelianen. Sie gehören zum menschenähnlichen Volk der Mendas, das in einer zum Teil hochtechnisierten Welt lebt, aber kulturell auf ein vormodernes Niveau gesunken ist. Die Mendas können die Jahrtausende alte Technik nutzen, verstehen sie aber nicht. Armon hält Jerry für den GROSSEN, der seinem Volk laut einer Prophezeihung den Weg in den durch einen energetischen Schutzschirm versperrten Tempel des Atelian öffnen soll. Samuel dagegen wird von den Gegenspielern der Atelianen, den Soobkaa-Priestern, aufgelesen und zu deren Oberhaupt Mortos (lateinisch mortus = tot) gebracht. Die Soobkaa bewachen den Tempel des Atelian und wollen den Status quo bewahren. Samuel wird im Dialog mit Mortos als (zukünftiger) Gegner Jerrys eingeführt und der Leser schon mal auf die Fortsetzung des Romans eingestimmt. Samuel wird vorgeschickt, um Jerry von seinem Vorhaben abzubringen; dieser hält aber unbeirrbar daran fest.
  3. Jerry kann die Sperre zum Tempel Atelians überwinden. Er entdeckt, dass es sich um einen Großcomputer handelt, gesteuert von dem ins Gigantische gewachsenen Gehirn seines Erbauers Atelian. Dieser verrät ihm den Großen Plan: Die von den Pfuthars besiegten, der zunehmenden Degeneration ausgelieferten Mendas schickten ein Kolonistenschiff mit dem Namen »Atlantis« (eine Ableitung von Atelian) los, das die unbewohnte Erde ansteuerte. Die Nachkommen der Auswanderer sollten in ferner Zukunft die dann (hoffentlich) dekadenten Pfuthars besiegen und die Vormachtstellung der Mendas in der Galaxis, angeführt von dem GROSSEN, wiederherstellen. Jerrys Ermordung und Entführung durch die Pfuthars waren Teil des Plans (Samuel und Corinna waren nur »Beifang«). Jerry erfährt weiter, dass die Mendas nicht nur ein Schiff aussandten, sondern es »mehrere Tausend Rassen [gibt], die von uns Mendas abstammen. Ihr Menschen seid nur eine davon«. (S. 55) Um seine Aufgabe erfüllen zu können und den Großen Plan zu vollenden, steht für Jerry nicht nur eine Armee von hunderttausend Robotern auf jedem Planeten bereit, sondern durch eine biologische Behandlung soll sein Alterungsprozess um das Hundertfache verlangsamt werden. Das dürfte in »Raumschiff des Todes« mit dem Untertitel »Imperator Jerkin greift ein« vertieft worden sein ( den Inhalt kenne ich nicht); womöglich war sogar mehr als eine Fortsetzung geplant.

J wie Jesus

Der Roman wird chronologisch überwiegend in personaler Erzählweise aus der Perspektive verschiedener Protagonisten, hauptsächlich Jerry King, erzählt. Eingestreut sind immer wieder einzelne Sätze oder Abschnitte in auktorialer Erzählweise, die zum Teil durch Einrückung optisch vom übrigen Text abgesetzt sind. Der Leser erfährt deshalb schon auf der ersten Seite, dass es einen Großen Plan gibt, in dem Jerry King eine wichtige Rolle spielt. Handlungsorte sind zunächst die Erde, genauer gesagt die USA, mit den drei Sterbeorten von King, Connory und Banthorps, dann das Raumschiff der Pfuthars sowie der Planet der Mendas mit mehreren Schauplätzen.

Ernest G. Black nimmt, und das hat mich überrascht, offensichtlich Bezug auf die Bibel und die christliche Heilslehre. Jerry King ist der Erlöser, der Heilsbringer, auf den die Medas gewartet haben. Der Name ist sicherlich mit Bedacht gewählt. Jerry, die Kurzform von Jeremia, ist der Name eines Propheten und bedeutet soviel wie »von Gott erhöht«. Der Name fängt mit dem selben Buchstaben wie Jesus an. Auch der Nachname verweist auf Christus: Jesus sei »König der Könige und Herr der Herren«, heißt es in der Offenbarung 19,16. Wie Jesus wird Jerry in aller Öffentlichkeit umgebracht und steht von den Toten auf, um seiner Bestimmung (die Vollendung des Großen Plans) zu folgen: »Der GROSSE soll uns dann mit Hilfe Atelians wieder zu Macht und Wohlstand fühlen.« (S. 28) Das ist eine originelle Version der alien abduction, der Entführung durch Außerirdische.

Auch Samuel, der künftige Gegenspieler Jerrys, trägt einen biblischen Namen und ist wie dieser ein Prophet. Armon{i] ist ebenfalls ein Name, der in der Bibel vorkommt.

Ungereimtheiten, Anschlussfehler und Plot Holes

Erzählerisch und stilistisch ist der Roman nicht überzeugend. Die Figurenzeichnung ist mehr als dünn. Es gibt eine ganze Reihe von Ungereimtheiten, Anschlussfehler und Plot Holes. Jerry weiß zum Beispiel, dass er erschossen wurde, obwohl das nach dem im Roman geschilderten Ablauf nicht möglich ist. Dann wissen die Mendas nicht, was Raumschiffe sind. Sie wissen allerdings, dass ihr Volk einmal »über viele Sterne« herrschte, und als Mortos erkennt, dass er King nicht stoppen kann, schickt er Samuel auf einen anderen Planeten des Sonnensystems, wo es (dummerweise) eine zweite Steuerzentrale für den Supercomputer gibt. Womit er fliegt wird nicht gesagt, aber vermutlich mit einem Jahrtausende alten Raumschiff. Dann weiß Atelian, obwohl er Jahrtausende im Tiefschlaf lag, was mit Atlantis, der Mendas-Kolonie auf der Erde, passierte. Überhaupt nicht nachvollziehbar ist, wie es Atelian über eine Kluft von Tausenden Jahren gelingen konnte, minuziös den Attentäter, der King erschießt, zu steuern und die eigentlich überlegenen Pfuthars in den Großen Plan einzuspannen.

Das größte Manko ist, dass der Autor nicht merkt, wie er den sogenannten Großen Plan, der auf dem Erscheinen des GROSSEN fußt, selbst ad absurdum führt. Jerry King ist überflüssig. Er bringt überhaupt nichts mit, was ihn als Führer der neuen Mendas auszeichnet. Er ist ein völlig normaler Mensch Anfang Dreißig, der als fleißig, reaktionsschnell, willensstark bezeichnet wird, mehr nicht. Alles, was er für seine Rolle im Großen Plan braucht, bekommt er von Atelian: Tausende von besiedelten Planeten, Roboter, das gesammelte Wissen der alten Mendas, ein langes Leben. Aus dem mutmaßlichen Heilsbringer King wird ein Instrument Atelians. Jeder andere könnte diese Funktion genauso erfüllen, zum Beispiel die als recht ehrgeizig, aber auch wohl intrigant dargestellte Tochter Armons, Rhona.

Fazit: Insgesamt kann ich beim Urteil »dilettantisch« bleiben, ich würde aber die Bezeichnung »Schrott« zurückziehen. Die, wenn auch nur oberflächliche Anlehnung an die christlich Heilslehre und die Namen aus der Bibel lassen vermuten, dass in dem Roman konzeptionell doch einiges an Gehirnschmalz steckt. Allerdings kann der Autor diesen Ansatz nicht nutzen, und die Umsetzung schwächelt insgesamt ohnehin.

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Eigenen Anspruch nicht ganz erfüllt

Die erste Ausgabe des Future Fiction Magazine ist erschienen. Sie enthält SF-Storys aus Deutschland, Großbritannien, Indien und Mexiko.

Future Fiction Magazine: Deutsche Ausgabe. 01/Feb22. 102 Seiten. ISBN 979-8535686790.

Jetzt liegt sie also vor mir, die ungeduldig erwartete erste deutsche Ausgabe des Future Fiction Magazine. Es ist ein ambitioniertes Vorhaben, auf dem deutschen Markt ein weiteres und dann noch international ausgerichtetes Science-Fiction-Magazin herauszubringen. Ungeduldig war ich, weil ich die unmittelbar Beteiligten persönlich kenne und vor knapp fünf Jahren in gewisser Weise Augenzeuge war, als in Dortmund der allererste Samen für die Zusammenarbeit gelegt wurde.

Bevor wir das Magazin aufschlagen, ein paar Fakten zum Hintergrund. Die associazione culturale (Kulturverein) Future Fiction ist ein Projekt des italienischen Schriftstellers, Herausgebers und Verlegers Francesco Verso. Seit etwa acht Jahren bringt er in dem Verlag in Rom nicht-angloamerikanische SF in zum Teil zweisprachigen Ausgaben heraus. Besonders intensive Kontakte hat er nach China. Es ist auch eine Anthologie mit deutscher Science-Fiction erschienen (»Obsolescenza programmata«, 2018). Alle darin vertretenen Autoren hatte Verso 2017 beim Eurocon in Dortmund kennengelernt, darunter den Mitherausgeber des neuen Magazins, Uwe Post, der schon zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht hat und zu den bekanntesten Akteuren der deutschen SF-Szene gehört. Zweite Herausgeberin ist Sylvana Freyberg, die seit Jahren im SF-Fandom aktiv und seit Kurzem Chefredakteurin der »Andromeda Nachrichten«, des Mitgliedermagazins des Science-Fiction-Clubs Deutschland, ist.

Das als E-Book und Taschenbuch exklusiv über Amazon vertriebene Magazin hat in Print das Format ~18×25 Zentimeter und 102 Seiten. Die Texte sind (bis auf ein Interview) zweispaltig mit relativ großem Durchschuss gesetzt. FFM 01/Feb22 enthält zahlreiche Abbildungen in Schwarzweiß. Die umlaufende Coverillustration ist von dem schwedischen Künstler Joakim Olofsson.

Ein programmatisches Manifest

Enthalten sind außer einem Vorwort der Herausgeber fünf Storys, ein Interview, ein Sachtext sowie das programmatische Manifest »Der neue ›Sense of Wander‹« (kein Tippfehler, es geht ums Wandern im übertragenen Sinne, um die Suche nach Geschichten) von Francesco Verso. Darin heißt es unter anderem: »Durch den ›Sense of Wander‹ ist es möglich, den vielen Stimmen und Visionen, die durch die Kolonisierung der Zukunft durch die englischsprachige Welt ausgeschlossen wurden, ihre Würde zurückgeben.«

Francesco Verso beim Eurocon 2017 in Dortmund.

Auf die Beiträge gehe ich hier nicht ein. Ich müsste zu viel spoilern. Sie sind lesenswert und genügen dem Versprechen der Herausgeber, »glaubwürdige Geschichten von Morgen, also aus der nahen Zukunft« zu liefern, die »Möglichkeiten unseres Zusammenlebens und unserer Entwicklung aufzuzeigen«. Das Konzept, Storys aus verschiedenen Kulturkreisen zu bringen und dem deutschen Leser damit die Vielfalt der SF auf unserem Globus nahezubringen, ist ohnehin zu begrüßen. Mit einer Story pro Ausgabe macht das seit Jahren das SF-Magazin Nova (in der jüngsten Ausgabe Iván Molina aus Costa Rica).

Bei den deutschen Beiträgen setzten die Macher auf bekannte Namen: Robert Corvus sowie Angela und Karlheinz Steinmüller sind mit Kurzgeschichten vertreten, den Sachtext über interstellare Raumfahrt steuerte Phillip P. Peterson bei. Die übrigen Autorinnen und Autoren kommen aus Mexiko (Martha Riva Palacio Obon), Indien (Lavanya Lakshminarayan) und Großbritannien (Ian McDonald). Das Interview führte Uwe Post mit Lakshminarayan übers Gaming. Bis auf »Algenbiografie« von Obon (Original) und Versos »Sense of Wander« (Original) sind alle Texte Erstveröffentlichungen.

Aber die FFM-Herausgeber hätten konsequenter ihrem eigenen Anspruch folgen sollen. Verso schreibt, dass viele in ihrer Heimat wichtige und geschätzte Autoren »auf globaler Ebene unsichtbar« seien, »weil sie nicht auf Englisch schreiben«, und Post und Freyberg beklagen in ihrem Editorial die »eindimensionale[n] Übermacht aktueller, hauptsächlich anglophoner SF«. Ian McDonald aber ist ein etablierter englischsprachiger Autor, der alles andere als unsichtbar ist. Er hat sogar eine eigene deutsche Wikipedia-Seite. Lakshminarayan ist zwar Inderin und vertritt eine nicht-westliche Perspektive, aber sie schreibt auf Englisch. Lediglich die Story von Obon erfüllt den Anspruch wirklich: Die Autorin schreibt auf Spanisch und wurde in ihrem Heimatland vor allem für Kinder- und Jugendbücher mehrfach ausgezeichnet.

Die Herausgeber sind nicht nur so ehrlich, darauf hinzuweisen, dass sie den Autorinnen und Autoren »nur ein eher symbolisches Honorar zahlen«, sondern auch, dass sie aus Kostengründen den KI-basierten Übersetzungsdienst DeepL nutzen. Das mögen manche für ein Sakrileg halten, aber warum nicht? Es ist schließlich SF, in der es häufig um Künstliche Intelligenz geht. Dann kann man sie auch nutzen.

Fazit: Das Future Fiction Magazine hat einen ordentlichen Start hingelegt, es ist aber »Luft nach oben«. Die Herausgeber sollten sich auf die »unsichtbaren« SF-Welten fokussieren und auch bei den deutschen Beiträgen den Mut haben, ausgetretene Pfade zu verlassen. Der Preis von 7 Euro für das Heft (E-Book 3,99 €) halte ich gerade noch für vertretbar.

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Arno Schmidt lässt die Mutanten tanzen

»Die Gelehrtenrepublik« ist ein Roman, der in der Zukunft spielt. Ist es auch ein Science-Fiction-Roman? Die Frage kann man mit »Nein« beantworten, muss man aber nicht.

Arno Schmidt steht seit Jahrzehnten in meiner Büchersammlung.

Wenn ich mal wieder nach der Lektüre allzu vieler erzählerisch und sprachlich mittelmäßiger bis langweiliger SF-Kurzgeschichten und -Romane Abstand brauche, greife ich gerne zu einem Buch von Arno Schmidt (1914-1979). Meine Wahl fiel dieses Mal auf »Die Gelehrtenrepublik« von 1957 (mein Geburtsjahr nebenbei), aus gegebenen Anlass: Im Verlag p.machinery wird eine Neuausgabe mit Illustrationen von Thomas Franke vorbereitet (Video, ~ ab Minute 30). p.machinery ist einer der wichtigsten deutschen Kleinverlage für Science Fiction.

Hat Arno Schmidt etwa Science-Fiction geschrieben? Schmidt-Fans auf der einen und SF-Fans auf der anderen Seite würden unisono, mit deutlich hörbarer Empörung in der Stimme sagen: Nein! Die einen, weil sie SF für verachtenswerte Trivialliteratur halten, die anderen, weil es eben keine Science Fiction sei (frei nach Damon Knight: SF ist, was SF-Leser dafür halten.) und dann noch so merkwürdig geschrieben. Die kleine Schnittmenge beider Gruppen, zu der ich gehöre, würde »Ja/Vielleicht/Hm?« sagen.

Hm?

Schmidts »Gelehrtenrepublik«, eine sogenannte Quellenfiktion, hat eine ganze Reihe von Elementen, wie sie in SF-Romanen gang und gäbe sind:

  • Der Roman spielt rund 50 Jahre in der Zukunft.
  • Europa ist nach einem Atomkrieg zerstört.
  • Deutschland gibt es nicht mehr.
  • Der fiktive Übersetzer des Romans ist einer von nur noch 124 lebenden Deutschen.
  • In Amerika zieht sich ein von hohen Mauern begrenzter Hominidenstreifen über 4000 Meilen von Nord nach Süd. In diesem Sperrgebiet leben drei mutierte Lebensformen, Mischungen aus Mensch und Tier: Zentauren (Mensch-Pferd), Never-nevers (Mensch-Spinne) und Fliegende Masken (Mensch-Schmetterling).
  • Die Supermächte USA und UdSSR haben ihr »gesamtes spalbares Material« im Mondkrater Wargentin entsorgt, was bei Neumond als roter Fleck sichtbar ist.
  • Es gibt Mondflüge.
  • Die titelgebenden Gelehrtenrepublik IRAS (International Republic for Artists and Scientists) ist eine über die Weltmeere fahrenden riesige Insel bzw. Plattform. Dort leben und wirken geniale Wissenschaftler und Künstler aus aller Welt in einem vermeintlich idealen Gesellschaft.
  • Auf der Insel werden von den beiden Supermächten, die jeweils einen von einer neutralen Zone getrennten Inselteil kontrollieren, transhumane Experimente gemacht: Die UdSSR verpflanzt Gehirne alternder Genies in junge Körper (einschließlich Geschlechtertausch) und die Gehirne der »Körperspender« in Hunde, die zur Spionage eingesetzt werden; die USA verlängern die Lebensspanne von Menschen durch Hibernation (Winterschlaf).

Die Handlung: Der amerikanische Reporter Charles Winer, der schon auf dem Mond war, darf für 50 Stunden die IRAS besuchen, die gerade im Nordpazik unterwegs ist. Um das Zubringerschiff zu erreichen, muss er den Hominidenstreifen zu Fuß durchqueren. Dabei lernt er eine Zentaurin kennen, hat Sex mit ihr, und trifft auf die Spinnen- und Schmetterlingsmutanten. In der Gelehrtenrepublik angekommen, wird er von den Inselkommandanten West und Ost als Spion und Vermittler in bizarren Entführungsfällen eingeetzt, wobei beide Seiten ihm freimütig Einblick in ihre Experimenten geben. Die Vermittlung scheitert, die beiden verfeindeten Seiten manipulieren den Antrieb der Insel so, dass sie ins Rotieren gerät und zu zerbrechen droht. Winer kann die Insel unbehelligt verlassen und in seine Heimat zurückkehren.

Also, alles Elemente für einen spannenden SF-Roman. Es gibt aber keinen Spannungsbogen, keinen Konflikt, der Protagonist agiert nicht, sondern ist Beobachter und denkt sich seinen Teil. Es geht Schmidt um Erkenntnis. In der Gelehrtenrepublik mit ihrem deutlichen Bezug zu Utopia wird das Ideal an der Wirklichkeit der 1950er Jahre (Atomkriegsgefahr, Blockkonfrontation etc.) gemessen und ist, so Schmidts Credo, zum Scheitern verurteilt. Ein Thema, das sich durch sein gesamtes Werk zieht.

Charakteristisch für Schmidts Stil ist außer einer eigenwilligen, jede Konvention ignorierende Orthografie die fragmentarische Erzählweise: »Der Sinn dieser ›zweiten‹ Form ist also, an die Stelle der früher beliebten Fiktion der ›fortlaufenden Handlung‹, ein der menschlichen Erlebnisweise gerechter werdendes, zwar magereres aber trainierteres, Prosagefüge zu setzen.« So sieht das im konkreten Fall, dem Anfang der »Gelehrtenrepublik«, aus:

22.6.2008 : Auf Kankerstelzen aus Licht der kleingeschnürte Sonnenleib über der Landschaft.
Spätnachmittag im Auto1 : nochmal nachfühlen – ? – Ja : Notizblock, Fernrohr, Grüne Brille; Ausweise vor allem. / Und die Straße rappelte : Sonne & Kakteen gemischt. Faul lag mein Fingerzeugs vor mir. Daneben rauchte der Captain (und sang; immer auf ‹uun› : moon und noon und June und racoon – gibt es etwa schon Menschengruppen, die nur einen auf bestimmte Vokale hin gefärbten Wortschatz erlernen?).

1 Geräuscharm, atomgetrieben; ich wählte den noch am nächsten kommenden der verschollenen Begriffe.

Aus: Arno Schmidt: Die Gelehrtenrepublik. In: Arno Schmidt: Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, Bd. 2. Zürich 1986: Haffmans. ISBN: 3-251-80002-7, S. 225


Schmidt hat, nach Genre-Maßstäben, keinen SF-Roman geschrieben, und das sicher nicht in bewusster Abgrenzung. Zwar kannte er die SF-Klassiker Jules Verne, H. G. Wells, Kurd Laßwitz und Hans Dominik (den er zu den »Elendsten« unter den deutschen Schriftstellern zählte), aber dass er SF als eine bestimmte Literaturgattung wahrnahm, erscheint mir ausgeschlossen. Zumal das Genre während der Entstehungszeit des Romans 1956/57 mehr als heute ein Nischendasein führte. Heftromane, die ein paar Jahre zuvor aufgekommen waren, wird er in Zeitschriftenkiosken gesehen haben, und in Leihbüchereien werden die phantastisch-wissenschaftlichen Romane wohl auch nicht seiner Aufmerksamkeit entgangen sein. Aber diese Begegnung hat keine Spuren hinterlassen.

»Die Gelehrtenrepublik« würde ich nach dem von Bruce Sterling (englicher SF-Schrifsteller und -Kritiker) geprägten Begriff zur Slipstream-Literatur zählen. Damit sind u. a. literarische Werke mit fantastischem oder unrealistischem Inhalt gemeint, die SF-Elemente verwenden, aber nicht dem SF-Genre zugeordnet werden und auch formal nicht den genretypischen Konventionen entsprechen. Allerdings hat Slipstream wie SF einen entscheidenden Mangel: Es gibt keine allgemein anerkannte Definition.

Der Roman ist übrigens nicht das einzige Beispiel fantastischer Elemente in Schmidts Werk. Im Roman »KAFF auch Mare Crisium« (1960) klingt schon im Titel an, dass ein Teil des Romans auf dem Mond spielt (weil die Erde nach einem Atomkrieg unbewohnbar geworden ist), und in der Erzählung »Goethe und einer seiner Bewunderer« (1958) können Tote für einige Stunden wieder lebendig gemacht werden, was Schmidt nutzt, um als Ich-Erzähler mit Goethe durch Darmstadt zu spazieren. In »Die Schule der Atheisten« (1972) werden nach einem verheerenden Atomkrieg sogar Ufos gesichtet.

Sehr hilfreich bei der Recherche zu diesem Blogpost war mir die Homepage der Arno-Schmidt-Stiftung und dort besonders die online duchsuchbaren Werke der sogenannten Bargfelder Ausgabe (daraus wird auch zitiert): https://www.arno-schmidt-stiftung.de/eba/search

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