Im Handgalopp zum Kantersieg

Wer herausfinden will, was ein 6:0 im Fußball mit Pferden zu tun hat, muss sich mit mittelalterlicher Literatur beschäftigen

Bild von skeeze auf Pixabay

Was hat das 6:0 der englischen Fußballnationalmannschaft am 14. Oktober gegen Bulgarien mit Pferden und einem mittelalterlichen Versen zu tun? Die Antwort zeigt wieder einmal, wie wandlungsfähig Sprache ist. In den letzten Tagen habe ich im Sportteil meiner Lokalzeitung, bei der ich arbeite, gleich mehrfach den Ausdruck »Kantersieg« gelesen. Was ist eigentlich ein Kantersieg, habe ich mich gefragt – und weil ich Urlaub habe und keinen Kollegen aus der Sportredaktion fragen konnte, habe ich im Internet recherchiert.

Ein Kantersieg ist, vor allem bei Ballspielarten, die Bezeichnung für einen ungewöhnlich hohen und leicht herausgespielten Sieg. Auf einen 6:0-Auswärtssieg in der Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft trifft diese Bezeichnung zweifellos zu. Abgeleitet ist der Kantersieg vom englischen Verb to canter, das im übertragenen Sinne »mühelos siegen« bedeutet, aber eigentlich aus dem Pferdesport kommt, also gar nichts mit Fußball zu tun hat und im Grunde auch nichts mit siegen. Es bedeutet nämlich nur »leicht galoppieren«, das dazu gehörende Substantiv wird als »Handgalopp« übersetzt. In diesem Sinn wird »Kanter« immer noch im Reitsport für eine Gangart verwendet.

Es gibt zwar einige ähnlich geschriebene Wörter im Englischen – cant kann Heuchelei, aber auch Schräge bedeuten –, aber damit hat der Kantersieg nichts zu tun. Vielmehr kommt jetzt der im 14. Jahrhundert in London wirkende Schriftsteller Geoffrey Chaucer ins Spiel. Er gilt als Begründer der modernen englischen Literatur und ist bekannt für die »Canterbury Tales«, einer Reihe von Erzählungen in Vers- und Prosaform. Darin geht es um eine Gruppe von Pilgern, die das Grab des Heiligen Thomas Becket in der südostenglischen Bischofsstadt besuchen wollen. Diese Pilger machen die Reise von London nach Canterbury nicht zu Fuß, sondern gemächlich zu Pferd, weshalb diese Form des Reitens als »Canterbury gallop« bezeichnet wurde, was später zu canter verkürzt wurde.

Ein Kantersieg für Helmut Kohl und die CDU

Den ältesten Nachweis für die Verwendung von »Kantersieg«, den ich gefunden habe, stammt aus dem Jahr 1921 aus der »Zeitschrift für Gestütkunde«. Dort ist von einem »Kantersieg im Fels-Rennen« die Rede. Das Wochenmagazin »Der Spiegel« schrieb im November 1970 im Zusammenhang mit der Kommunalwahl in Rheinland-Pfalz über »Kantersiege seiner Partei [der CDU Helmut Kohls, der dort damals Ministerpräsident war] im Raum Koblenz-Trier«. Auf frühere Verwendungen weist summarisch die DWDS-Wortverlaufskurve hin, die die erste Nennung für 1947 registriert. Im aggregierten Referenz- und Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ist aber erst für 1985 ein »Kantersieg« im Fußball vermerkt – der sich auf das 6:0 der deutschen Fußballnationalmannschaft in der WM-Qualifikation gegen Malta bezieht (dabei hatte die BRD Malta schon 1974 mit 8:0 geschlagen). Seit etwa Anfang der 1990er Jahre ist eine steigende Verwendung festzustellen, der wohl fast ausschließlich auf Sportberichterstattung zurückzuführen ist. Der Spitzenwert wird für das Jahr 2014 verzeichnet, als Deutschland bei der Fußball-WM in Brasilien den Gastgeber im Halbfinale mit 7:1 besiegte.

Im Englischen wird ein Kantersieg übrigens als »blowout« bezeichnet.

Der erste Flug zum Mond

Die Erde geht über dem Mondhorizont auf.
Ein Foto, das jeder kennt: »Earthrise« (Ausschnitt) aufgenommen von Apollo 8. Bild: Anders/Nasa

Heute vor 50 Jahren, am 24. Dezember, sind zum ersten Mal Menschen um den Mond geflogen. Frank Borman, William Anders und James Lovell an Bord von Apollo 8 waren die ersten, die die Rückseite des Monds mit eigenen Augen sahen. Noch nie waren Menschen so weit von der Erde entfernt gewesen wie diese drei amerikanischen Astronauten.

Für mich ist der Flug von Apollo 8 noch immer das bedeutendste Ereignisse in der Geschichte der Raumfahrt, noch vor der ersten Mondlandung wenig Monate später. Es war ein großes Wagnis, ein Flug ins Unbestimmte. Wie muss es für diese Männer gewesen sein, die Erde hinter sich zu lassen, sie immer kleiner werden und schließlich hinter dem Mond verschwinden zu sehen. Es war vielleicht der aufregendste Moment der Raumfahrtgeschichte, als die ersten Worte nach der Umrundung des Mondes zur Erde zurückkamen, auch wenn sie nicht besonders spektakulär waren:

Go ahead, Houston, (This is) Apollo 8. Burn complete. Our orbit (is) 169.1 by 60.5; 169.1 by 60.5.

Apollo Flight Journal © 2003 by W. David Woods and Frank O’Brien

Ich war damals elf Jahre alt, und kannte jeden Satelliten, der um die Erde kreiste, beim Namen. Jeden Raketenstart, der im Fernsehen gezeigt wurde, habe ich verfolgt. Zu jedem Flug gab es Sondersendungen, und bei Apollo 8 wurden Worte und Bilder live aus dem Mondorbit übertragen.

Oft wird die erste Mondlandung und Neil Amstrongs erster Schritt im Mare Tranquilitatis mit der Entdeckung Amerikas durch Columbus verglichen. Der Vergleich hinkt schon vom Ansatz, denn die amerikanischen Astronauten wussten, wohin sie flogen, zu einem Ziel, das jeder sehen konnte. Dagegen segelte Columbus mit seine kleinen Flotte ins Ungewisse und kam schließlich auch nicht dort an, wohin er wollte. Wenn schon, dann ist Apollo 8 das Pendant zur Santa Maria, denn es war der erste Flug zu einem fernen Gestade, auch wenn niemand »an Land ging«.


Mehr über Apollo 8 und die Mondmissionen der Nasa gibt es auf der Website von Marshal History.

Kluge Dialoge, glaubwürdige Figuren

Lothar Englert: Die holländische Brille. Leda-Verlag Leer 2012. 288 S. 9,90 Euro. ISBN 9783939689515

Ich war skeptisch und habe deshalb auch lange gezögert, dieses Buch zu lesen: einen Roman über eine historische Figur und einen besonders wichtigen Zeitabschnitt in der Geschichte Ostfrieslands. Fast alle historischen Romane, die ich gelesen habe, haben mich, gelinde gesagt, enttäuscht. Aber weil ich mich seit langem immer wieder einmal mit David Fabricius beschäftigt habe, kam ich an dieser Lektüre nicht vorbei. Und sie hat sich gelohnt. Continue reading „Kluge Dialoge, glaubwürdige Figuren“