Die Inka drehen den Spieß um

Laurent Binets »Eroberung« ist eine Alternativweltgeschichte vom Feinsten. Darin stirbt Kolumbus auf Kuba, und Martin Luther wird umgebracht.

Laurent Binet: Eroberung (übersetzt von Kristian Wachinger). Rowohlt-Verlag, Hamburg. 384 S., gebunden. 24 Euro. ISBN 978-3-498-00186-5 (gibt es auch als Taschenbuch und E-Book). Links das Cover der Rowohlt-Ausgabe, rechts das Cover der Lizenzausgabe für die Büchergilde Gutenberg.

Ich bin mir nicht sicher, wo ich »Eroberung« von Laurent Binet einordnen soll. Es ist eine Alternativweltgeschichte, in der die Inka halb Europa erobern, und könnte ins Science-Fiction-Regal. Oder das Buch kommt in meine »Entdeckung und Eroberung Amerikas«-Bibliothek, denn immerhin kommen Kolumbus und einige der übrigen Protagonisten jener Epoche darin vor. Ich könnte es aber auch ins Regal mit der schönen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts stellen. Man sieht, es ist ein vielfältiges Buch.

Der Roman besteht aus vier großen Teilen und einigen eingeschobenen kleinen Abschnitten. In Teil 1 wird »Die Saga von Freydis Eriksdottir« neu erzählt. Freydis war in unserer Welt eine herrschsüchtige und gewalttätige Wikingerfrau, die um das Jahr 1000 mit einer Gruppe Männer und Frauen den Versuch machte, an der Küste Nordamerikas eine Siedlung zu gründen. Nach einem Streit unter den Kolonisten mit mehreren Toten kehrte Freydis nach Grönland zurück. Bei Laurent entscheidet sich Freydis aus Furcht vor Strafe anders und bleibt in Amerika. Sie zieht mit ihren Anhängern von Neufundland nach Süden bis ins heutige Mexiko.

Das hat weitreichende Folgen, wie Christoph Kolumbus und seine Leute knapp 500 Jahre später zu spüren bekommen. Die Indios haben von den Wikingern die Kunst der Eisenverarbeitung gelernt, sind gut bewaffnet und verfügen über Pferde. Sie können sich wehren und tun das auch mit aller Entschlossenheit. Wie seine Expedition vor allem wegen der Goldgier der Spanier scheitert, schildert Kolumbus in seinem Tagebuch.

Atahualpa entkommt übers Meer

In Europa erfährt niemand davon. Kolumbus verbringt seine letzten Lebensjahre in einem Dorf auf Kuba. Dorthin verschlägt es knapp 40 Jahre später den entmachteten Inka-Herrscher Atahualpa und dessen Truppen auf der Flucht vor seinem Bruder und Mitregenten Huascar (in unserer Welt besiegte Atahualpa seinen Bruder). Als Huascars Truppen einen Angriff auf Kuba vorbereiten, gelingt es Atahualpa, die dort gestrandeten Schiffe der Spanier flottzumachen und über das Meer zu entkommen.

Die Inka landen an der Westküste der iberischen Halbinsel. Geschickt gelingt es Atahualpa, die innereuropäischen Streitigkeiten und Rivalitäten zu nutzen, um als Fremder mit einer kleinen Streitmacht zu überleben. Er gewinnt immer mehr Einfluss auf die für ihn »Neue Welt«, unter anderem durch eine Landreform und religiöse Toleranz bzw. Assimilation. Dabei begegnet er einer Reihe historischer Figuren, darunter Martin Luther. Der Reformator kommt in den Atahualpa-Chroniken nicht gut weg. Er ist ein Judenhasser und Frauenverächter und wird von aufgebrachten Bauern umgebracht. Atahualpas Stern sinkt, als eine neue Macht auf den Plan tritt, die aus einer unerwarteten Richtung kommt. Er wird in Florenz in eine Falle gelockt und ermordet.

Im vierten Teil wird das gemeinsame Schicksal des Schriftstellers Cervantes und des Malers El Greco geschildert. Beide lebten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Was passiert, will ich hier nicht verraten, damit es spannend bleibt. Leider muss ich mir deshalb verkneifen, eine böse Pointe zu erzählen, die etwas mit dem Louvre in Paris zu tun hat.

Diese knappe Inhaltsangabe kann nicht annähernd den Gehalt dieses Romans wiedergeben. Binet erzählt die Eroberungsgeschichte vor allem am Anfang mit vielen Parallelen zu den wirklichen Ereignissen, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Inka drehen den Spieß um. So legen sie einen Hinterhalt, nehmen Karl V., König von Spanien und deutscher Kaiser, als Geisel und nutzen dessen Tod, um ihre Machtposition auszubauen. Genauso machten es die Pizarro-Brüder im Inka-Reich, mit einem Unterschied: Atahualpa wurde 1533 von den Spaniern ermordet, Karl stirbt in dem Roman bei einem Fluchtversuch.

Atahualpa und sein Gefolge werden in Teil VI von Theodor de Brys Werk »America«, das 1595 erschien, dargestellt. So ähnlich könnte der Inka auch im fiktiven Spanien aufgetreten sein.

Plausible Alternativweltgeschichte

Die besondere Wirkung erzielt der Roman nicht nur durch die durchdachte und plausible Alternativweltgeschichte, die an vielen Stellen zeigt, wie sehr bestimmte politische und gesellschaftliche Konstellationen der frühen Neuzeit bis heute nachwirken und wie es besser hätte laufen können. Dass als Ergänzung zu den Atahualpa-Chroniken ausgerechnet Thomas Morus, der »Erfinder« der Utopie, in Erscheinung tritt, ist sicher kein Zufall.

Es ist auch die Erzählweise, die das Buch auszeichnet. In allen Teilen ahmt Binet den jeweiligen zeitgenössischen Stil nach. Von Freydis wird wie in einer nordischen Saga erzählt, Columbus‹ fiktives Tagebuch entspricht seinem berühmten »Bordbuch«, und »Die Atahualpa-Chroniken« ähneln den Berichten, die spanische Chronisten über die Eroberung des Azteken- und des Inkareichs im 16. Jahrhundert verfassten.

Wer sich in der Materie auskennt, hat doppelten Spaß an den vielen Anspielungen, die Binet einstreut. Zum Beispiel ist Pedro Pizarro im Roman einer der ersten Spanier, die sich Atahualpa in Europa anschließen. In unserer Welt war Pedro Pizarro Augenzeuge und Chronist der spanischen Eroberung Perus. Der ermordete Atahualpa, Entdecker seiner „Neuen Welt“, wird in der Kathedrale von Sevilla beigesetzt – statt, wie in unserer Welt, Kolumbus.

Dieser tiefgründige Roman liefert einen unterhaltsamen Beitrag zur Postkolonialismus-Debatte. Sein einziges Manko ist ein unglaubwürdiger erzählerischer Kniff: Die Inka, die überhaupt keine Ahnung von Schiffbau und Hochseenavigation haben, machen innerhalb kurzer Zeit zwei gestrandete spanische Karavellen, die 40 Jahre lang auf dem Trockenen vor sich hin gammelten, flott, bauen sogar ein Schiff nach und erreichen schließlich ohne große Probleme Lissabon. Darüber muss man sehr großzügig hinwegsehen, sonst kann man den großartigen Rest vergessen.

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Hört auf die Stimme aus Afrika

Zwei Bücher, ein Appell von Vanessa Nakate und Kim Stanley Robinson: Es muss sich etwas grundlegend ändern, so kann es nicht weitergehen.

Vanessa Nakate: A Bigger Picture: My Fight to Bring a New African Voice to the Climate Crisis. London 2021. Gibt es als gebundenes Buch, als Taschenbuch und als Hörbuch (und auch auf Deutsch). | Kim Stanley Robinson: Das Ministerium für die Zukunft. Heyne-Taschenbuch. 720 Seiten. 17 Euro. ISBN 978-3-453-32170-0.

Anlässlich des Weltklimagipfels COP26 Anfang November 2021 in Glasgow habe ich mir zwei ganz unterschiedliche Bücher zugelegt und gelesen: »A Bigger Picture« von Vanessa Nakate und »Das Ministerium für die Zukunft« von Kim Stanley Robinson. Das eine ist ein Sachbuch, das andere wird als »Roman« vertrieben. Beide Bücher sind ein dringender Appell an die Weltöffentlichkeit: Es muss sich etwas grundlegend ändern, so kann es nicht weitergehen. Nakate und Robinson waren auf Einladungen von Nichtregierungsorganisationen in Glasgow.

Vanessa Nakate ist eine junge Klimaaktivistin aus Uganda in Ostafrika. International wurde man zum ersten Mal auf sie aufmerksam durch ein Foto, auf dem sie nicht zu sehen war. Nach einem Treffen von jungen Aktivistinnen und Aktivisten am Rand des Weltwirtschaftsforums im Januar 2020 in Davos hatte die Nachrichtenagentur AP ein Foto der Gruppe, darunter Greta Thunberg (Schweden) und Luisa Neubauer (Deutschland), verbreitet, von dem Nakate abgeschnitten worden war. Man sieht nur vier weiße junge Leute und am Bildrand ein Stück von ihrer Jacke. Die Fotos – original und beschnitten – und Nakates Reaktion auf Twitter sehen so aus:

Dieses Foto ist der Aufhänger für ihr Buch »A Bigger Picture«. Sie will damit Afrika eine Stimme geben, denn der Kontinent ist mit am meisten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen, wird aber weitgehend ignoriert. Dabei tragen alle afrikanischen Länder zusammen dazu kaum mehr bei als etwa Deutschland allein (D ist der sechstgrößte CO₂-Emittent).

Nakate schildert schnörkellos und eindringlich, wie sie innerhalb kurzer Zeit zur Klimaaktivistin wurde, nachdem Uganda 2018 von schweren Überschwemmungen und Dürre heimgesucht worden war. Sie erzählt von ihrem ersten naiven »Klimastreik« in ihrer Heimatstadt Kampala, der Hauptstadt Ugandas, von ihren ersten Auslandsreisen zu Klimakonferenzen, ihren Einsatz für den Regenwald im Kongo, ihre Aufklärungsarbeit in Schulen und vielem mehr.

Zwischendurch klärt sie in leicht verständlicher Art über die Ursachen und Folgen des Klimawandels auf, nennt Zahlen und Fakten, die jeder dank zugehöriger Quellenangaben leicht überprüfen kann. Das Buch richtet sich vor allem an junge Leute, an solche, die Antworten suchen, die wissen wollen, was sie selbst machen können, um ihre Zukunft zu sichern. Denn die, die bis jetzt dafür verantwortlich sind, scheitern, weil sie offenbar die Tragweite ihres Handels bzw. Nichthandelns nicht begreifen wollen. Nakate klagt nicht an, wird auch nicht moralisierend oder gar ausfallend (was sie wohltuend von vielen anderen Menschen unterscheidet, die sich bedingungslos für eine Sache engagieren). Sie verlangt Klimagerechtigkeit und dass der globale Süden gehört wird.

Wer halbwegs gut Englisch kann, sollte mit dem Buch keine Schwierigkeiten haben. Das gibt es aber auch auf Deutsch als Rowohlt-Taschenbuch (»Unser Haus steht längst in Flammen: Warum Afrikas Stimme in der Klimakrise gehört werden muss«. ). Lest es!

Wer ist die dritte Person? Der Kerzenständer?

Den Fauxpas mit einem beschnittenen Foto – wenn man nicht sogar Absicht unterstellen will – leisteten sich übrigens zum Beginn der Weltklimakonferenz auch britische Medien. Vanessa Nakate und Greta Thunberg trafen sich mit der schottischen Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon. Und wie lautete die Schlagzeile?

Gute Frage: Wer ist die Person rechts neben Nicola Sturgeon?

Mehr als ein SF-Roman

Der Amerikaner Kim Stanley Robinson ist durch seine Mars-Trilogie bekanntgeworden, in der es um das Terraforming unseres Nachbarplaneten geht. Das Klima ist schon lange ein zentrales Thema in seinem Werk. »Das Ministerium für die Zukunft« ist kein Roman im üblichen Sinne. Es erzählt keine durchgehende Handlung, sondern bietet eine Collage aus erzählerischen, reflektierenden, anekdotischen oder informativen Abschnitten. Wer einfach nur eine spannende, unterhaltsame Story lesen möchte, kommt nicht auf seine/ihre Kosten. Es gibt zahlreiche Kapitel, die einiges an Ausdauer erfordern, aber einen schlauer machen.

Die beiden zentralen Figuren sind der junge Arzt Frank, der in Indien eine katastrophale Hitzewelle mit Millionen Toten nur zufällig überlebt hat, und Mary. Frank geistert schwer traumatisiert durch Zürich. Dort trifft er auf Mary. Sie ist Chefin einer internationalen Behörde, die geschaffen wurde, um die Interessen zukünftiger Generationen zu vertreten, aber weder mit den erforderlichen Mitteln noch der notwendigen Macht ausgestattet wurde. Weil das »Zukunftsministerium« kein normaler Roman und erst recht kein Hollywood-Schinken ist, bedient diese Begegnung selbstverständlich keine trivialen Erwartungshaltungen.

»Das Ministerium für die Zukunft« ist ein höchst politisches Buch. Robinson fabuliert nicht einfach als SF-Autor darüber, wie die Welt sich entwickeln könnte, und warnt damit vor den Folgen des Klimawandels. Er macht viele sehr konkrete Vorschläge, wie Wirtschaft und Politik umgebaut werden müssen, damit es nicht noch schlimmer kommt. In der Welt seines Romans besteht Anlass zum Optimismus. Leider hat der gerade zu Ende gegangene Klimagipfel mit seiner Wischi-waschi-Abschlusserklärung gezeigt, dass wir in der realen Welt noch nicht so weit sind.

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Skurrile Figuren, trügerische Idyllen

In »Der Koloss aus dem Orbit« von Jacqueline Montemurri und »Born« von Kris Brynn machen die einen Protagonisten eine Zeitreise, die anderen fahren mit dem Taxi.

Jacqueline Montemurri: Der Koloss aus dem Orbit. Verlag Plan 9, Hamburg. Taschenbuch, 300 Seiten, 14 Euro. ISBN 978-3-948700-36-2. | Kris Brynn: Born. Verlagsgruppe Droemer Knaur, München. Taschenbuch, 352 Seiten, 12,90 Euro. ISBN 978-3-426-52648-4. | Beide Romane gibt es auch als E-Book.

Romane von Frauen werden werden von Rezensenten und Rezensentinnen sehr viel seltener besprochen als Romane von Männern. Das ist keine steile These, sondern lässt sich anhand von Zahlen belegen, wie Theresa Hannig auf meiner Veranstaltung »Hinterm Mond« am 9. Oktober 2021 deutlich machte. In der Phantastik ist das Verhältnis etwa 1:4. Um daran ein klein wenig zu ändern, werde ich hier auf zwei im September erschienene Romane von Frauen eingehen, die beide zum Erfolg von »Hinterm Mond 2021« beigetrugen: »Der Koloss aus dem Orbit« von Jacqueline Montemurri und »Born« von Regine Bott alias Kris Brynn. Ich habe die Bücher unmittelbar hintereinander gelesen.

Idylle bekommt Risse

Der »Koloss« ist ein Roman, der aus einer gleichnamigen Kurzgeschichte hervorging, mit der Jacqueline Montemurri 2020 den Kurd-Laßwitz-Preis gewonnen hat (der KLP ist eine der beiden wichtigsten deutschen SF-Preise). Darin wird eine Gruppe von gescheiterten Existenzen, darunter als Ich-Erzählerin die ehemalige Journalistin Dysti Adams und der Cyborg Xell, zu einem riesigen Artefakt geschickt, das seit einigen Jahren im Orbit um die Erde kreist. Wie sich herausstellt, ist der Koloss eine Zeitmaschine, mit der Dysti und Xell auf der Flucht vor ihren Auftraggebern 250 Jahre in die Zukunft entkommen können. Sie machen auf der vom Klimawandel größtenteils entvölkerten, deindustrialisierten Erde eine Bruchlandung.

Jacqueline Montemurri bei »Hinterm Mond 2021«.

Für Dysti und Xell, die sich erst nicht ausstehen können und dann ein Paar werden, beginnt eine abenteuerliche Reise durch eine ebenso idyllische wie alptraumhafte Welt. Sie treffen auf verschiedene, weitgehend isoliert von einander lebenden Gruppen, die ganz unterschiedliche soziale Strukturen entwickelt haben, um zu überleben. Die Anwesenheit der beiden Fremden aus der Vergangenheit sorgt allerdings dafür, dass die perfekt erscheinenden Fassaden schnell Risse bekommen und die brutalen und zynischen Kehrseiten sichtbar werden. Immer wieder gerät das Paar in Lebensgefahr und muss fliehen.

Ein zentrales Thema des Romans ist die Frage nach Identität und Menschsein. Xell ist angesichts seiner zum Teil künstlichen Körperteile und der in seinem Körper aktiven Nanobots (die ihm zum Beispiel erlauben, Schmerzen abzuschalten), verunsichert darüber, ob er noch ein Mensch oder schon ein Roboter ist. Die eigenen Zweifel werden dadurch verstärkt, dass er von seiner Umwelt vor allem als letzteres wahrgenommen und zum Teil bekämpft wird. Andererseits beweist Xell Empathie und zeugt mit Dysti ein Kind. Hier werden von der Autorin elementare Fragen aufgeworfen, auf die es selbstverständlich keine allgemeingültige Antwort gibt.

Jacqueline Montemurri ist eine erfahrene Autorin, der es gut gelingt, ihre Figuren Tiefe zu verleihen und so lebendig zu gestalten, dass sie glaubhaft agieren. Das sind keine glattgebügelten Helden, sondern Menschen mit guten und schlechten Seiten. Das gefällt mir.

Der Schluss, genauer gesagt: die finale Konfrontation mit einem plötzlich auftauchenden Antagonisten und deren Folgen, hat mir nicht gefallen. Er ergibt sich nicht zwingend aus der Handlung, sondern wirkt aufgesetzt und beliebig. In einem klassischen Roadmovie (den Ausdruck hat die Autorin bei der Lesung in Leer zur Charakterisierung der Story benutzt) steuert die Handlung auf ein unvermeidliches Ende zu. Hier ist es nicht so. Dysti und Xell haben jederzeit die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden.


Rasante Fahrt durch die Megacity

An »Born« von Kris Brynn haben mir die schrägen Charaktere sowie Stil und Sprache besonders gut gefallen. In der deutschen SF sind sprachliche Glanzlichter selten, die meisten Autorinnen und Autoren schreiben eher etwas betulich und haben für stilistische und sprachliche Feinheiten kaum Gespür. Bei Kris Brynn ist das anders. Das fängt schon bei den manchmal rätselhaften Kapitelüberschriften wie »Rauchende Colts« oder »Delflopion gekreuzt mit Gloster« an. Dafür gibt’s einen Extra-Stern.

Regine Bott alias Kris Brynn bei »Hinterm Mond 2021«.

Die Handlung von »Born« ist komplex und kann nicht in wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Nach einem nicht näher beschriebenen Großen Sandkrieg leben die Menschen in Megacitys wie Born. Die Landwirtschaft wird nicht mehr in der Fläche betrieben, sondern in vertikalen Plantagen und Farmen, den VertiPlants und VertiFarms. Sie werden von Bruder- und Schwesternschaften geführt, die sich auf das Alte Testament berufen und das Monopol auf die Lebensmittelversorgung haben. Da liegt Konfliktpotenzial. Es geht um illegale Machenschaften auf dem Agrarsektor, um Schwarzhandel, um Machtspiele, um Politik.

In Born ist die taffe Nalani Taxifahrerin und kutschiert jede Menge merkwürdige Fahrgäste wie Horse, einen Nachtclubbesitzer, durch die Gegend. Sie und ihr Bruder Tomas geraten unabhängig voneinander in ziemliche Schwierigkeiten, ohne zu wissen, wieso und worum es überhaupt geht und wie die Fronten verlaufen. Während Tomas nach einer Versetzung auf eine VertiFarm völlig überfordert seine Schwester um Hilfe bittet, nimmt Nalani mit Unterstützung ihrer Freunde vom Rand der Gesellschaft den Kampf auf, um sie beide rauszuhauen.

Klar ist (für die Leser), dass das alles zusammenhängt und Teamleiterin Lorna, die zufällig in Nalanis Taxi landet, auf der anderen Seite steht. Lorna erledigt die Dreckarbeit für das wichtige Ernährungsministerium, liebt Luxus und hasst Geräusche aller Art, egal ob beim Essen, beim Laufen oder beim Sex, und hat auch sonst einige merkwürdige Angewohnheiten. Aber auch für sie läuft es nicht glatt. Damit ist die Parade der skurrilen Figuren aber noch nicht erschöpft. Normale Menschen kommen, abgesehen von Tomas, in dem Buch gar nicht vor. Gibt’s die in Born nicht?

Der heimliche Star des Buches ist Fergus, der allerdings ein großes Handicap hat: Er ist eine Künstliche Intelligenz, ein Kfz-Notfall-Hologramm, das Autofahrern bei einer Panne helfen soll. Fergus nimmt den Beifahrersitz von Nalanis Taxi in Beschlag, weil man ihn nicht mehr abschalten kann, ist lernfähig, wissbegierig, redet gerne und viel und ist ein Fan von James Cagney und anderen alten Filmstars (Dass da eine Vorliebe der Autorin ins Spiel kommt, ist offensichtlich). Fergus ist genial. Da stört es mich nicht, dass die KI für ihre Aufgabe völlig überqualifiziert ist (Im wirklichen Leben würde kein Autobauer so einen Aufwand für eine simple Pannenhilfe betreiben, weil das viel zu teuer wäre).

Fazit: »Born« sollte man unbedingt lesen. Das Buch macht Spaß, es hat Tempo und Witz.

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