Apachen, wohin man sieht

Aus der Abteilung »nutzloses Wissen«: Was Pariser Kneipen und eine Berliner Krimireihe miteinander und mit Indianern zu tun haben

Kartenspieler in einer Pariser Kneipe – Apachenkneipe II von Ida Gerhardi

Manchmal findet man Zusammenhänge zwischen Gebieten, mit denen man nicht gerechnet und deshalb nicht danach gesucht hat. Oft gehören sie in die Kategorie »nutzloses Wissen«, aber der Moment des Aha-Erlebnisses ist es allemal wert, sich damit beschäftigt zu haben, und vielleicht kann man eines Tages doch etwas damit anfangen.

Bei einem Besuch des LWL-Museums für Kunst und Kultur in Münster ist mir ein Bild von Ida Gerhardi aufgefallen, womöglich wegen seiner kräftigen Farben und seines expressionistischen Strichs. Es zeigt vier Männer und eine Frau beim Kartenspiel. Titel des Bildes: Apachenkneipe II.

Beim Stichwort Apachen denkt ein Mann meines Alters (fast automatisch) an Winnetou, den fiktiven Indianerhäuptling1 aus Karl Mays Romanen. Was Kartenspieler in einer Kneipe mit Apachen zu tun haben, verriet die Bildlegende: In Paris wurden Anfang des 20. Jahrhunderts »Kriminelle, Zuhälter, Anarchisten und im allgemeinen Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft« als »Apachen« bezeichnet. Das Bild ist von 1906. Gerhardi (1862-1927) war eine weniger bekannte Künstlerin der klassischen Moderne und lebte von 1891 bis 1913 in der französischen Hauptstadt. Zu ihrem Bekanntenkreis gehörten unter anderem der Bildhauer Auguste Rodin und Käthe Kollwitz, die in dieser Zeit zwei Paris-Reisen unternahm.

Die beiden Frauen waren offenbar fasziniert von der Subkultur der Pariser Kellerlokalen, in die sich Frauen nur in Begleitung von Männern hineinwagen durften. Kollwitz hat das in mehreren Zeichnungen festgehalten, eine ist nach einem dieser Lokale benannt: Caveau des Innocents, die Höhle der Unschuldigen (der Name bezieht sich auf die Rue de Innocent, an dem die Kneipe lag, ist aber schön doppeldeutig).

Die Höhle der Unschuldigen war eine berüchtigte Pariser Kneipe.

Einige Wochen vor meinem Museumsbesuch war ich bei Recherchen zu einem Roman (Die Marsbrücke von Uwe Jarl) auf den Berliner Diana-Verlag gestoßen. Er gab in den Jahren 1920 bis 1923 die Groschenheftreihe »Apachen. Aus dem Dunkel der Großstadt« heraus. Getriggert durch »Apachen« recherchierte ich und erfuhr von den Berliner Ringvereinen. Diese waren Ende des 19. Jahrhunderts zunächst als Selbsthilfeorganisationen von Kriminellen gegründet worden, unter anderem zur Unterstützung von Familien von Kumpanen, die eine Zuchthausstrafe absitzen mussten. Später entwickelten die Ringvereine mafiaähnliche Strukturen. 1934 wurden sie verboten. Einer dieser Ringvereine nannte sich »Apachenblut«. Ich nahm an, dass der Titel der Krimireihe damit zu tun hatte.

Die Apachen-Groschenhefte hatten einen Umfang von 24 Seiten, waren vom Umfang her also eher Kurzgeschichten. Von 1920 bis 1923 erschienen 68 Hefte. Sie kosteten 50 Pfennig. Heute werden Hefte gelegentlich zu Preisen um 25 Euro angeboten. Zum Glück waren fünf Krimis der Reihe 1921 in einem Sammelband unter dem Titel Der Herr der Nacht veröffentlicht worden, in dem auch der Autor, Heinz Stahleck, genannt wurde. Die Deutsche Nationalbibliothek bietet ihn als Digitalisat zum Online-Lesen an.

Die Geschichten drehen sich um den »Herren der Nacht«, einem gebildeten, gut situierten Mann aus gehobenen Kreisen, der immer maskiert auftritt und sich als eine Art Robin Hood mit Zügen von Jules Vernes Kapitän Nemo versteht. Er ist »ein solcher Freund und Helfer aller Bedrängten« und «ein so unbarmherziger Verfolger und Rächer alles Bösen« (Der Spiritisten-Klub, S. 21) und hilft mit nicht immer astreinen Methoden unschuldig Gescheiterten, Betrogenen und Ausgebeuteten zu ihrem Recht. Inhaltlich gibt es überhaupt keinen Bezug zum Berliner Kriminellenmilieu, im Gegenteil. In Heft 3, Ein geheimnisvoller Retter, wird der »Anführer der Apachen« auf Seite 12 so beschrieben: »Der Hausherr war der geheimnisvolle Mann mit der Maske, der rätselhafte Führer der gefürchteten Vereinigung, die in Frankreich entstanden war und sich allmählich über die Erde verbreitet hatte.«

Titelbild der Apachen-Krimireihe

Warum hießen die Apachen aber so und was hat das mit den nordamerikanischen Indianern zu tun? Laut des französischen Wikipedia-Artikels wurde der Begriff von der Tageszeitung Le Matin 1900 für die Mitglieder einer Bande aus dem Stadtteil Belleville eingeführt, die einen tätowierten Leberfleck auf der rechten Wange oder unter dem Auge trugen. Schon bald wurde er allgemein für Banden verwendet, die grundlose Gewalttaten oder Diebstähle in Verbindung mit Gewalt verübten oder Frauen vergewaltigten.

Die echten Apachen, die im Südwesten der USA und im Norden Mexikos lebten, hatten damals einen schlechten Ruf. Sie galten als gewalttätig, hinterlistig und ehrlos. Sie hatten sich lange gegen ihre Unterwerfung gewehrt und lieferten der US-Armee jahrzehntelang erbitterte Kämpfe. Davon wusste man selbstverständlich in Europa.

Zu ihrem schlechten Ruf könnte auch ein populärer Roman des Franzosen Gabriel Ferry (1809-1852) beigetragen haben. In Le Coureur des bois von 1850 sind die Apachen als wildes, räuberisches Indianervolk dargestellt, während die Komantschen »die Guten« waren. Den Roman hat Karl May 1879 als Der Waldläufer übersetzt und »für die Jugend« bearbeitet. Es wird angenommen, dass May diese Rollenverteilung in seinen Wild-West-Romanen bewusst ins Gegenteil verkehrte und den Apachen-Häuptling Winnetou deshalb zum edlen Wilden und guten Menschen schlechthin entwickelt hat. Ein wenig von dessen Glanz mag auch der »Herr der Nacht« aus den Berliner Apachen-Krimis abbekommen haben.

  1. Bei der Bezeichnung der nordamerikanischen Ureinwohner verwende ich den in der deutschen Sprache geläufigen Begriff, da sich auch viele von ihnen selbst Indians nennen. Unter anderem heißt die älteste und größte Organisation der Indigenen National Congress of American Indians. ↩︎

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Unterwegs zum »Ort der Angst«

»Im Schatten von Xibalba« lautet der Titel der Anthologie, die ich auf meine Mexiko-Reise mitnehme. Sie verspricht Storys aus einer blutigen Alternativwelt

Die Kukulcán-Pyramide von Chichen Itza werden wir am vorletzten Tag unserer Mexiko-Reise sehen. Ob ich bis dahin aus dem »Schatten von Xibalba« herausgetreten bin.

stilisierter Maya-TempelFür meine Reise ins Land der Azteken und Maya habe ich mir – hoffentlich – die richtige Reiselektüre auf den Kindle geladen: die Anthologie »Im Schatten von Xibalba: und andere Mayapunk-Storys«, herausgegeben von Sven Klöpping und verlegt von p.machinery. Der Sammelband mit 14 Storys deutschsprachiger Autoren war mir bei seinem Erscheinen 2016 irgendwie durch die Lappen gegangen, obwohl ich zu der Zeit gerade dabei war, mich in den Kosmos der aktuellen deutschsprachigen SF-Kurzgeschichten einzulesen.

Die Anthologie versammelt Storys aus einer Welt, in der die Geschichte einen anderen Verlauf genommen hat. So heißt es im Anreißer auf Amazon: Mit außerirdischer Hilfe haben die Maya im sechsten Jahrhundert Amerika und weite Teile Europas erobert. Wo später einmal Deutschlands Hauptstadt errichtet werden würde, liefern sich Germanen, Slawen und Mayakrieger nun erbitterte Schlachten. Zwischen den Fronten wechseln Prinzessinnen und Bauernjungen die Seiten … und teilen manchmal sogar die Betten. Das Kind heißt Mayapunk – mit Storys aus einer blutigen, herausfordernden Alternativwelt …

Xibalbá ist in der Mythologie der Maya die neunstufige Unterwelt. Übersetzt ist es der »Ort der Angst«. Das verspricht keine Wohlfühlatmosphäre. Ich bin gespannt.

Die Anthologie en von Xibalba: und andere Mayapunk-Storys« gibt es noch als E-Book.

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Ein Heimatroman des Grauens

»Das Gangrän« spielt in Luxemburg. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wird in diesem Roman von Maxime Weber unscharf.

Maxime Weber: Das Gangrän. Kremart Edition, Luxemburg. 2021. ISBN 978-2-919781-40-9. 300 Seiten, 18 Euro.

Gangrän – was für ein seltsames Wort. Weil der Roman »Das Gangrän« des Luxemburgers Maxime Weber in Luxemburg spielt, habe ich es für ein luxemburgisches Wort gehalten. Aber weit gefehlt: Gangrän kommt aus dem Griechischen und ist ein medizinischer Ausdruck für die Verwesung oder Selbstverdauung von Gewebe. Es verheißt nichts Gutes für die Protagonisten, dass Gangrän dem Buch den Titel gegeben hat.

Die junge Luxemburgerin Jeanne hört auf dem Weg von Paris, wo sie studiert, zu ihrem fiktiven Heimatort Pardange, wo sie die Semesterferien verbringen will, von einem verstörenden Vorfall in Indien mit hunderten Toten und einem ähnlichen Ereignis in Algerien. Dort ist wie aus dem Nichts ein bläulich leuchtendes Geflecht erschienen. Bei der Berührung mit ihm zersetzt sich alles Organische, egal ob Pflanze, Tier oder Mensch, als ob es in Sekundenschnelle verwelkt oder verwest.

Das Phänomen berührt Jeanne zunächst nur am Rande; es ist unheimlich, aber weit weg. Sie freut sich, ihre Familie und ihre Freunde wiederzusehen, geht mit ihnen feiern und hat eine gute Zeit. Weber gibt diesem Ferienalltagsleben viel Raum und auch Jeannes Versuchen mit luziden Träumen, ein Thema, das den ganzen Roman bis zur letzten Seite durchzieht (Ich musste mich erst einmal schlau machen, was das ist.). So betulich und einfach wie das Leben in dem 700-Seelendort ist an einigen Stellen aber auch die Sprache des Buchs. Es gibt stilistische Schwächen, Unbeholfenheiten. Etwa wenn es heißt: [Sie konnte] »all diese Erlebnisse durchleben« (2 x »leb«) oder »Als ihr Großvater merkte, dass sie auf ihn zukam …« (banal und unmotivierter Perspektivwechsel, Perspektivfigur ist immer Jeanne.)

Auf solche Banalitäten folgen aber immer wieder tiefgründige, fast schon poetische Formulierungen wie: »Dass die vertrautesten Gesichter Räume hinter sich verbargen, zu denen nie jemand Zutritt hatte; unkartografierte Inseln des radikal Anderen, die immer wieder im eigentlich familiären Ozean aufblitzten.«

Maxime Weber

Das Grauen kommt näher

Irgendwann dringt das Gangrän in Jeannes Welt ein, anfangs indirekt: Während einer Fernsehübertragung der Tour de France wird live nach Paris geschaltet, die Stadt, in der Jeanne lebt. Das inzwischen Gangrän getaufte Phänomen überwuchert in Nullkommanix die ikonische, 111 Meter hohe Grande Arche im Hochhaus-Stadtteil La Défense. Die Fernsehzuschauer erleben dabei mit, wie ein Mensch vom Gangrän »verwest« wird: »Seine Haut verfärbte sich plötzlich zu einem bläulichen Purpur, ehe sie in ein orangenes Rot überging. Dann fing der Körper an zu schrumpfen und nach und nach lösten sich die Gliedmaßen vom Rumpf wie Blätter von einem leblosen Baum. Zurück blieb nur die Kleidung.«

Während das Gangrän, gegen das es kein Mittel zu geben scheint, sich unaufhaltsam ausbreitet und das öffentliche Leben weltweit zusammenbricht, grenzt sich Jeannes Leben immer weiter auf Pardange ein. Ihre beste Freundin Caroline, die im Nachbarort wohnt, zieht bei ihr ein. Eines Tages machen sie sich auf, um Jeannes Großeltern, die in der Stadt Luxemburg leben, in ihr Dorf zu holen. Die Hauptstadt des Großherzogtums ist fast menschenleer, wer konnte, ist vor dem schon sehr nahen Gangrän geflohen.

Hier gelingt Weber die wohl eindringlichste Szene des Buches: Jeanne und Caroline beobachten, versteckt in einem liegengebliebenen Straßenbahnwagon, wie ein Mann und eine Frau von einer Gruppe sogenannter Gangränisten verfolgt und gestellt wird. Als die Frau sich wehrt, wird sie erschossen. Anschließend wird der Mann gezwungen, sich in eine bizarre Prozession einzureihen. Angeführt von einem »Hohepriester« genannten Mann ist es das Ziel dieser Menschen, sich in das Gangrän zu stürzen, um Erlösung zu finden.

Nahe an der Realwelt

Die Szene lässt Weber an einer Stelle spielen, die fast jedem Luxemburger etwas sagen dürfte (und nicht Ortskundige problemlos bei Google Maps finden können). Das rückt die fiktiven Ereignisse nahe an unsere Realwelt, was diese noch bedrohlicher wirken lässt. Genauso funktioniert die Wahl der Grande Arche. Wer schon mal dort war, kann sich das Ungeheuerliche des Vorgangs erschreckend bildhaft vorstellen. Dem Roman ist außerdem eine Karte von Pardange vorangestellt, als deren Autoren zwei Romanfiguren genannt werden (was man aber erst im Laufe der Lektüre bemerkt). Das macht den fiktiven Ort und die Ereignisse dort erfahrbarer. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit wird unscharf.

Wie der Roman zu Ende geht, ob das Gangrän die Welt überwuchert oder – im übertragenenen Sinne – im letzten Moment die Kavallerie anrückt, um dem Spuk ein Ende zu bereiten (wie z. B. im Film »Shaun of the Dead«), lasse ich hier offen.

So unglaublich es klingt: Webers schöner Debütroman verbreitet sogar ein wenig Optimismus (wenn auch nicht für die Romanfiguren, so doch für die Leserinnen und Leser): Auch in der bedrohlichsten Krise muss nicht alles den Bach runtergehen, ist die Botschaft. Jeanne, die ohne ein klares Ziel im Leben war, kann ihre Fähigkeit des luziden Träumens weiterentwickeln, entdeckt ihre Stärken, übernimmt Verantwortung für die selbstbewusst gewordene Dorfgemeinschaft und vergnügt sich, wenn auch nur sehr kurz, mit einem jungen Franzosen (zum Glück macht den Autor nicht den Fehler, die Story mit einer Liebesgeschichte zu überfrachten).

Weber bezeichnet seinen Heimatroman als Weird Fiction. Mit dem Gangrän hat er ein übernatürliches, unergründbares Phänomen geschaffen, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Der junge, noch nicht einmal 30 Jahre alter Autor weiß, in welcher Tradition er damit steht. Es gibt Verweise auf den Cthulhu-Mythos von H. P. Lovecraft und Mary Shelleys »Frankenstein«. Denn Jeannes Mutter ist Literaturprofessorin mit Schwerpunkt Science-Fiction. Es kommt sogar ein Raumschiff vor – wenn auch nur in einem luziden Traum.

  • 2023 wurde »Das Gangrän« vom altehrwürdigen Institut Grand-Ducal de Luxembourg mit dem »Prix Arts et Lettres« ausgezeichnet. Dieser Förderpreis wird alle zwei Jahren an einen jungen Künstler verliehen.

Die Rezension erschien erstmals in Ausgabe 278 der Andromeda Nachrichten, dem Mitgliedermagazin des Science-Fiction-Clubs Deutschland.

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