Kannibalen und ein imaginärer Kontinent

Die französische Nationalbibliothek in Paris beherbergt zwei beeindruckende Globen. Sie waren ein Geschenk für den Sonnenkönig Ludwig XIV.

Vier Meter durchmessen die beiden Coronelli-Globen in der französischen Nationalbibliothek.

Es ist ein paar Wochen her, dass ich zuletzt in Paris war. Bei dieser Gelegenheit haben wir die französische Nationalbibliothek besucht, die Bibliothèque François-Mitterrand, benannt nach dem früheren Präsidenten. Das imposante Gebäude aus Beton, Stahl und Glas liegt am linken Ufer der Seine und fällt wegen seiner vier großen Türme in Form eines offenen Buches auf.

Die Bibliothek beherbergt nicht nur rund 15 Millionen Bücher aus vielen Jahrhunderten, sondern dort stehen auch zwei beeindruckende Globen. Diese Meisterwerke, ein Erd- und ein Himmelsglobus, stammen aus der Werkstatt von Vincenzo Coronelli (1650-1718) und waren ein Geschenk für Ludwig XIV, den Sonnenkönig. Beide Globen haben einen Durchmesser von fast vier Metern. Der Erdglobus zeigt die Ende des 17. Jahrhunderts bekannte Welt einschließlich Australien bzw. Neu-Holland, das von Europäern erst wenige Jahrzehnte zuvor entdeckt worden war. Die Antarktis ist als »Terra Magellanique Australe Inconnue« noch ein imaginärer Kontinent.1

Wie es damals üblich war, sind die Globen mit vielen Illustrationen und Erklärtexten versehen. Die Einwohner von »Bresil« werden beispielsweise als Kannibalen gezeigt. Zu sehen sind verschiedene Szenen, die zeigen, wie Menschen getötet, zerteilt und Leichenteile gegrillt werden. Auf dem Himmelsglobus sind die Sternzeichen als Lebewesen dargestellt.

Die Eingeborenen von »Bresil« werden als Kannibalen dargestellt.

Ein Besuch der Bibliothek lohnt sich allein wegen der Architektur und der Globen. Der Eintritt ist frei, nur für die Nutzung der Lesesäle muss man eine kleine Gebühr bezahlen.

  1. Die Antarktis wurde erst 1820 entdeckt. ↩︎

Wikipedia-Artikel über die Coronelli-Globen

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Sogar an den Heftklammern wurde gespart

»Die bunten Hefte« des Henri Nannen Verlags waren ein typisches Produkt der frühen Nachkriegszeit. Heft 2 handelt von der Entdeckung Amerikas.

Gestern ist mit der Post ein Neuzugang zu meiner umfangreichen Columbus-Sammlung ins Haus geflattert: »Columbus entdeckt Amerika« von Herbert Kretschmer ist ein 1948 als Nr. 2 erschienenes Werk aus der Reihe »Die bunten Hefte«, herausgegeben vom Henri Nannen Verlag Hannover. Das Heft im Din-A-5-Format hat 32 Seiten und kostete 40 (Reichs-) Pfennig; das Heft erschien vor der Währungsreform vom Juni 1948.

Typisch für ein Druckerzeugnis aus der Zeit kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die einfache Ausstattung. Das Papier ist dünn und holzhaltig. Sogar an der Heftklammer wurde gespart: Die 16 Bögen plus Umschlag werden nur durch eine Heftklammer zusammengehalten. Mein Heft ist für sein Alter – mehr als 70 Jahre – noch gut in Schuss. Es hat ein farbiges Titelbild, das zwei nackte Eingeborene zeigt, die die Ankunft der spanischen Schiffe beobachten. Zeichner war Günter Schulz, der auch mehrere Innenillustrationen beisteuerte.

Behandelt wird die Lebensgeschichte von Christoph Columbus und dessen erste Amerikareise, wie mir nach der ersten Sichtung scheint weitgehend auf den anerkannten Quellen beruhend und frei von Legenden. Kretschmer legt sich bei der Herkunft des Entdeckers korrekt auf die italienische Hafenstadt Genua fest, vermeidet es allerdings, das damals auch unter Historikern ungeklärte Alter des Columbus zu nennen. Der Seefahrer kommt insgesamt zu gut weg, wird von Kretschmer als »gelehrter Forscher« idealisiert, der »Vorschläge für spätere friedliche Missions- und Kolonisationsarbeit« macht und dem »[j]ene blinde Goldsucht späterer Conquistadoren… fremd« sei. Darauf kann man nur kommen, wenn man beim Lesen von Columbus‘ Aufzeichnungen mindestens ein Auge zudrückt.

Über den Verfasser habe ich nichts herausgefunden Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet zwölf Werke unter »Kretschmer, Herbert (Verfasser)«, wobei es sich aber offensichtlich um mindestens zwei Personen handelt. Vier Titel lassen sich dem Verfasser der Columbus-Geschichte zuordnen, denn sie behandeln thematisch ähnliche Themen und passen auch zeitlich: »Ein Leben für Afrika« (Kaufmann-Verlag Lahr, 1951) etwa handelt von David Livingstone, dem Afrika-Forscher.

Nach Heft 11 eingestellt

Auf Seite 31 zu finden ist das geplante Programm der »bunten Hefte«, die dem Leser »dramatisch bewegte Erzählungen, in deren Mittelpunkt das Leben der großen Förderer und Helfer der Menschheit steht«, versprechen. Als Nr. 1 wird »Kampf um den Südpol« von Stefan Zweig genannt. Angekündigt wurden 15 weitere Titel, unter anderem der »Kampf ums Matterhorn« von Eugen Roth und »Amundsen erobert den Nordpol« von Paul Alverdes, beides etablierte Schriftsteller, die nicht für den Massenmarkt schrieben. Sogar ein Beitrag von Theodor Heuß, der 1949 zum ersten Bundespräsidenten gewählt wurde, wurde angekündigt, aber nie veröffentlicht. Aus dieser Liste sind nur fünf Hefte erschienen, davon einige mit anderen Titeln. Insgesamt kamen elf Hefte auf den Markt, ein zwölftes wurde angekündigt. Dann wurde die Reihe vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt, ein Schicksal, dass die »bunten Hefte« mit vielen Heftreihen teilten.

Die letzten drei Hefte erschienen im Alpha Verlag, Alfeld. Der Wechsel steht möglicherweise im Zusammenhang mit der Gründung der Illustrierten »Stern« durch Nannen, deren erste Ausgabe am 1. August 1948 auf dem Markt kam. Über den Verleger besteht eine unerwartete Verbindung zu meiner Wahlheimat Ostfriesland: Henri Nannen wurde in der ostfriesischen Hafenstadt Emden geboren und hat seiner Heimatstadt seine umfangreiche Kunstsammlung geschenkt, die seither in der Emder Kunsthalle gezeigt wird.

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Ein Störfaktor im Paradies

Der junge Yusuf lebt in einer Welt kurz vor dem Untergang. Davon handelt der Roman »Paradise« des tansanischen Nobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah.

Abdulrazak Gurnah: Paradise. Bloomsbury Publishing 2021
(E-Book).

Der Roman »Paradise« von Nobelpreisträger Abulrazak Gurnah von 1994 hat mich literarisch über den Jahreswechsel 2021/2022 begleitet. Er spielt am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Ostafrika zwischen dem Indischen Ozean, dem Kilimandscharo-Massiv und den großen Seen am Rande des Kongobeckens. Gurnah erzählt die Geschichte vom Erwachsenwerden des jungen Yusuf vor dem Hintergrund einer sich durch das Ausbreiten des europäischen Kolonialismus verändernden Welt. Der Roman ist sehr vielschichtig.

Der elfjährige Yusuf kommt Anfang des 20. Jahrhunderts als rehani in den Haushalt des Kaufmanns Aziz und muss in dessen Laden arbeiten, weil sein Vater, ein gescheiterter Kaufmann und Hotelier, seine Schulden nicht zurückzahlen kann. Nach einigen Jahren begleitet Yusuf seinen »Onkel« Aziz auf einer dessen Karawanen, die quer durch das heutige Tansania (von 1885 bis 1918 Deutsch-Ostafrika) ins westliche Kongogebiet führt und fast in einer Katastrophe endet. Yusuf lernt lesen und schreiben, erhält Koran-Unterricht, macht erste sexuelle Erfahrungen und gerät nach seinen Rückkehr in den Bann von Aziz‘ Frau, die von dem schönen Jungen Heilung für ihr entstelltes Gesicht erhofft. Als Aziz ihn schließlich aus seiner Abhängigkeit entlässt, weil sein Vater gestorben und seine Mutter unbekannt verzogen ist, fehlt dem jetzt 18-Jährigen jeder Halt und jede Perspektive. Yusuf folgt einer Kompanie der deutschen kolonialen »Schutztruppe«, die für den bevorstehenden Krieg Einheimische als Träger in ihren Dienst presst.

Beitrag zur Kolonialismus-Debatte

Mich fasziniert besonders die kulturhistorische Perspektive des Romans, die einen Beitrag zur postkolonialen Debatte liefert. In Deutschland ist dieses vergleichbar kurze Kapitel der Landesgeschichte kaum noch in der Gesellschaft präsent und erst recht nicht aufgearbeitet, vermutlich verdrängt durch die viel tiefer sitzenden Traumata, die zwei Weltkriege, die Naziherrschaft, der Holocaust und die deutsche Teilung hinterlassen haben.

Aziz und Yusufs Familie gehören wie Gurnahs Vorfahren (er wurde 1948 auf der ostafrikanischen Insel Sansibar geboren) zur polyethnischen, urbanen Suaheli-Kultur aus Arabern, Indern und Schwarzafrikanern, die sich über Jahrhunderte an der ostafrikanischen Küste entwickelt hat. Die arabischstämmigen Kaufleute ziehen mit ihren Träger-Karawanen tief ins Innere des Kontinents, um mit den – aus ihrer Sicht – Wilden zu handeln. Sie tauschen Tuche, Stoffe und Werkzeuge gegen Elfenbein, Gold, Rhinozeros-Horn und Gefangene, die an der Küste als Sklaven verkauft werden. Unterwegs müssen sie den örtlichen Herrschern Wegezoll zahlen, um handeln und deren Gebiet unbehelligt passieren zu dürfen. So haben die Händler nur die Wildnis zu fürchten, tückische Sümpfe, gefährliche Tiere, bissige Insekten und Krankheiten.

Niemand kann sie aufhalten

Das System hat sich eingespielt, es ist für alle lukrativ (von den Sklaven abgesehen) und hat die Kaufleute reich gemacht. Da tritt ein Störfaktor auf, der es zusammenbrechen lässt: die Europäer. In Gurnahs Roman treten sie in persona zwar kaum in Erscheinung, aber ihr Einfluss ist überall und für alle spürbar. Die Einheimischen haben einen höllischen Respekt vor ihnen: »The Germans were afraid of nothing. They did whatever they wanted and no one could stop them.« Die deutsche Kolonialmacht verbietet die Sklaverei und den Wegezoll, und durch den Eisenbahnbau macht sie den zeitaufwändigen Karawanenhandel unrentabel und entzieht damit der Suaheli-Kultur eine wichtige wirtschaftliche Grundlage. Den Händlern ist das klar: »But there will be no more journeys now the European dogs are everywhere«, ist sich Aziz‘ Karawanenführer Mohammed Abdallah sicher.

Unklar ist mir, ob Gurnah mit der Darstellung der Geografie im Roman etwas beabsichtigt hat. Es gibt reale und fiktive Elemente, manche Orte sind konkret benannt, aber nicht lokalisierbar, andere nur umschrieben (»a small town under a huge snowcapped mountain«), aber identifizierbar, ohne dass hinter allem ein System erkennbar wäre. Sogar eine ziemlich präzise zeitliche Einordnung auf die letzten sechs oder sieben Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist durch Angaben zum Eisenbahnbau möglich. Die wenigen konkreten Beschreibungen reichen aber aus, um die Geschichte zu verorten und Yusufs Weg und die Route der Karawane zu folgen. Ich frage mich, wieso Gurnah das dann so verklausuliert hat. Ist das Yusufs Perspektive, der nur die Ortsnamen kennt, die er von anderen hört, und sonst wenig von der Welt weiß?

Die Suche nach dem Paradies

Warum heißt der Roman »Paradise«? Da gibt es eine Reihe von Bezügen, durch die Gurnah Einblicke in das Verhältnis der Glaubensgemeinschaften untereinander gibt. Alle sind auf der Suche. Während es für die Muslime wie den Kaufmann Hamid Suleiman, bei dem Yusuf ein Jahr verbringt, ein spiritueller, aber potenziell realer Ort ist, spottet der Inder Kalasinga, ein Hindu: »I’ll be in Paradise screwing everything in sight, Allah-wallah, while your desert God is torturing you for all your sins.« Für Yusuf ist das Paradies zunächst der ummauerte Garten an Aziz‘ Haus, und später verortet er es als Ort der Verheißung tief im Inneren des Kontinents; die rot leuchtenden Klippen am Westufer des Tanganjikasees kommen ihm wie flammende Tore zum Paradies vor. Aber, fragt ihn sein Gefährte Kahlil, als ihm Yusuf von seinen Erlebnissen dort erzählt: »And who lives in this Paradise? Savages and thieves who rob innocent traders and sell their own brothers for trinkets.« Offenbar ist das Paradies kein Ort mehr, an dem man in Frieden leben kann.

Sehr gut gefallen hat mir Gurnahs unaufgeregte, wohlklingende Sprache. Das Lesen macht einfach Spaß. Wer seine Nobelpreis-Vorlesung gehört hat, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie der Roman klingt. Absolut lesenswert.

  • Der Roman ist mit dem Titel »Das verlorene Paradies« inzwischen auf Deutsch vom Penguin-Verlag neu aufgelegt worden.

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