Nova mal 30 = eine reife Leistung

Seit 18 Jahren gibt es das in Deutschland einmalige Science-Fiction-Magazin. Die Jubiläumsausgabe hat zu einer hitzigen Debatte in der SF-Szene geführt, aber nicht wegen der neun Storys.

Michael K. Iwoleit & Michael Haitel (Hrsg.)
NOVA Science-Fiction, Ausgabe 30
p.machinery, Winnert, März 2021, 252 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 233 1 – EUR 16,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 862 3 – EUR 8,49 (DE)

Das deutsche Science-Fiction-Magazin »Nova« hat die 30. Ausgabe im März mit einem Jubiläumsband gefeiert. Er enthält neun »Jubiläumsgeschichten«, einen SF-Klassiker, einen Sekundärteil, eine Reihe von Grußworten zum Jubiläum und Grafiken. Vor 18 Jahren kam Nova 1 heraus. Damit hatten Ronald M. Hahn, Michael K. Iwoleit und Helmuth W. Mommers den Grundstein für ein in Deutschland einmaliges Magazin gelegt, das trotz einer wechselvollen Geschichte seinem Anspruch, hochwertige und gehaltvolle SF-Kurzgeschichten zu bieten, immer gerecht wurde. Gelegentlich sorgt Nova auch für (hitzige) Diskussionen in der SF-Szene.

Die Storys

Karsten Kruschel, Dreckdrohnen und die Mathematik Mozarts | Die ersten viereinhalb von gut sieben Seiten wurden den hohen Erwartungen, die ich bei einem Kruschel-Text habe, gerecht. Wir begegnen einem durchgeknallten Künstler, der in einem nicht näher beschriebenen Institut mit Sachen um sich wirft und dabei Wörter wie »Dreck« oder »Archivieren« ruft, ohne sich um seine Umgebung zu kümmern. Wie sich herausstellt, hat er Drohnen so programmiert, dass sie zum Beispiel seine auf Wurstpappen aus der Kantine aufgekritzelten Notizen auffangen und abschreiben. Sehr skurril. Aber an diesem Tag werden alle Drohnen des Instituts für ein Projekt gebraucht, das etwas Licht in das Geheimnis für Mozarts Musik bringen soll, und die Wurstpappen landen auf dem Boden. Es folgt ein Kurzvortrag über Schwarmintelligenz, denn um die geht es bei dem Projekt. In einem Saal werden die programmierten Drohnen schließlich mit Mozart-Musik beschallt und beginnen zu tanzen. Der Künstler ist völlig platt und erkennt Figuren und Muster, die ihn an seinen Mathe-Unterricht erinnern. Leider verrät uns der Autor nicht, was der Künstler tatsächlich sieht. Formeln? Graphen? Matrizes? Und auch nicht, wie sich darin »die reine Mathematik Mozarts« manifestiert.

Horst Pukallus, Das lange Jahr der kurzen Tage | Katholische Kampfschiffe wollen einen freiheitliebenden Planeten angreifen, um die Kontrolle über wertvolle Rohstoffe zu bekommen. Der Anführer der »fortgeschrittenen Freiheitsfreunde« verwickelt den Anführer der »klerikalen Kosmifaschos« (S. 33) in ein philosophisches Streitgespäch, bis der Gegenangriff erfolgt. Der Autor unterstellt den Angreifern arrogante Dummheit, an der diese scheitern. Ein Wunschtraum, so doof sind die leider nicht. Die Story des alten Wortradikalen glänzt durch die üppige Verwendung von Adjektiven und Technobabbel – auf Sätze wie »Raumfahrzeuge bewegten sich trotz ultramoderner Neutron-Triebwerken, die virtuell-artifizielle polytachyonische Singularitätn n-dimensionaler Qualität erzeugten und die Stympaliden, gelenkt durch mit Neuroakzelerstoren ausgestattete Pavian-Biotron-Piloten und Plasmacomputer, quasi phasenperiodisch durchs Raumzeit-Kontinuum forcierten, langsamer als das DML.« (S. 21 f.) muss man erst einmal kommen. Pukallus, bekennender Atheist und Linker, gibt an, die Story »aus Feindschaft« (S. 32) geschrieben zu haben.

Norbert Stöbe: RITA flies at 5 p.m. | Die Geschichte ist ein Puzzle, in dem entweder ein paar Teile fehlen oder zu viel sind. Zuerst geht es um Pablo, eine medikamentensüchtige Reinigungskraft, der Geldsorgen und Stress mit seinem Chef hat, weil er bei der Arbeit in virtuelle Realität abtaucht, dann um einen internationalen Klimaschutzkongress, der zu scheitern droht, dann findet Pablo dort beim Saubermachen einen Zettel mit der Ankündigung eines Attentats, wird aber nach der Hälfte der Story von irgendwem vor Publikum auf Nimmerwiedersehen aus dem Verkehr gezogen, dann begleiten wir in China die Attentäter, deren Attentat von einem Pandabären-Paar verhindert wird, dann nehmen die Chinesen in der Nähe ein Fusionskraftwerk in Betrieb, um mit seiner Hilfe Kohlendioxid aus der Luft zu filtern, dann wird eine der Attentäterinnen, die offenbar eine Doppelagentin war (und das Attentat verhindern sollte?), von ihren Auftraggebern eliminiert, und dann ist die Geschichte zu Ende.

Markus Müller: Regenmädchen | Bei der Geschichte musste ich mich zusammenreißen, sie nicht im Lektoren-Modus zu lesen. Vielleicht lag es daran, dass ich in der siebten Zeile auf eine »Meatspace-Adresse« (S. 51) stieß und erst im Internet nachsehen musste, ob es das Wort gibt. Gibt es. Es ist unsere Welt, in der Menschen aus Fleisch (meat) und Blut leben, im Unterschied zum Cyperspace. Ein paar Zeilen weiter fehlten Kommata, und auf der nächsten Seite war ein ganzer Absatz aus Computerkauderwelsch überflüssig. Ich merkte da schon, dass der Autor (zu viel) Ahnung von Computern hat und verstand auch später manchmal nur Bahnhof. In der Story bekommt die Saari-Priesterin Karla einen mysteriösen Auftrag, der sie in ein abgewracktes Hotel führt. Dort stößt sie auf Leani, ein virtuelles Mädchen, das im Kern des Hotelservers lebt (wenn ich das richtig verstanden habe). Leanie ist aber keine KI, sondern das Substrat eines echten Mädchen, Tochter einer Zwangsprostituierten. Sie ist »eine Art Wolfskind« (S. 66), das vom Hauscomputer großgezogen wurde, ihr Bewusstsein in den Computer transferiert und sich anschließend vom Hoteldach im Regen in den Tod gestürzt hat. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, warum Karla, die eine Art Super-Systemadministratorin ist, als Priesterin einer mächtigen Hightech-Religion, die als solche überhaupt keine Rolle in der Geschichte spielt, daherkommt. Auf S. 70 fand ich die Antwort: Leani benötigt »die extrem hohen Privilegien« einer Saari-Priesterin, um »ihren Container-Code aus dem eingeschränkten Userspace in den Systembereich zu verschieben und anschließend sämtliche noch aktiven Sicherheitsmechanismen des Kernels kurzerhand zu deaktiveren«. Ach so. Aber insgesamt hat mir die Story gut gefallen. Computer-Nerds werden wahrscheinlich noch mehr davon haben.

Tom Turtschi: Neuromarketing | Tom Turtschi hat mich nicht enttäuscht. Schon sein Nova-Debüt »Don’t Be Evil« in Nummer 28 war beeindruckend und wurde mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Die Geschichte stimmt einfach. In »Neuromarketing« geht es um Künstliche Intelligenz, um eine Software, die Kaufentscheidungen vorhersagt und Bestellungen aufgibt, bevor der Kunde weiß, dass er etwas bestellen wird (und damit als eine Art Unterbewusstsein fungiert, das als »predictiv mind« auch immer weiß, was wir machen wollen, bevor es uns bewusst wird). Kurz vor der entscheidenden Präsentation legt der Entwickler dieser Software die Server des Unternehmens in Schutt und Asche und erschießt sich, weil es die einzige Möglichkeit ist, die Nutzung der KI zu verhindern. Die Mittel dazu hat ihm die KI bei einem Testlauf bestellt. Turtschi wählt zwei abwechselnde Erzählperspektiven: die des Software-Entwicklers am Vorabend der Tat und die der Kommissarin, die die Hintergründe der Tat aufklären will. Auf der letzten Seite der Anthologie ist ein Formular abgedruckt mit der Frage »Welche Story nominiere ich für den Kurd-Laßwitz-Preis 2022?«. Ich würde den Haken wohl bei »Neuromarketing« machen. Leider gehöre ich nicht zu den Abstimmungsberechtigten.

Wolf Welling: »Zwei gehen rein …« | Ein klassisches, oft bis zum Klischee ausgereiztes Setting, ist der tödliche Zweikampf in einer Arena. Hier: Ein alter, dem Tode naher Mann namens Papa Zero lässt junge Kopien seiner selbst gegeneinander antreten, um einen würdigen Nachfolger für sich zu finden. Gäbe es da nicht bessere Auswahlkriterien als eine Prügelei? Erzählt wird die Geschichte eines Kampfes aus der Ich-Perspektive, es gibt also viel inneren Monolog. Irgendwann ist der Gegner tot, der Kampf zu Ende – aber es ist wie beim Fußball: Nach dem Kampf ist vor dem Kampf. Originell ist der Aspekt, dass die Kopien durch ein 4D-Druckverfahren erzeugt und mit Bewusstsein versehen werden, es sind also keine Klone.

Thomas A. Sieber: Die gute Fee von Proxima B | Ein namenloser, vermutlich männlicher Ich-Erzähler (er nennt sich selbst Idiot und nicht Idiotin) verpfeift in Hamburg vermeintliche jugendliche Attentäter, die er im Zug belauscht hat. Er wird, weil er Dutzende Sprache beherrscht und intuitiv neue lernt, vom US-Geheimdienst rekrutiert. In der berüchtigten Area 51 wird das Sprachgenie mit einem amorphen Alien konfrontiert und versucht, mit ihm zu kommunizieren. Das gelingt auf eine völlig unerwartete Art, und weil beide Gefahr laufen, von den Amis zum Schweigen gebracht zu werden, fliehen sie mit dem Alien-Raumschiff in Richtung Proxima B. Dort soll er das Geheimnis der STIMME lösen, die die Aliens – und irgendwann auch der Erzähler – hören, aber nicht verstehen. Der Mensch hat eine esoterische Version, während er den Planeten erkundet. Am Ende mäandert die Story ein wenig dahin, bis der Protagonist zur Erde zurückkehrt. Diese locker geschriebene First-Contact-Geschichte ist gut zu lesen und spricht einige elementare Fragen unser Existenz im Universum an.

Michael Schmidt: Faith Healer | Eine Posse, deren Sinn/Botschaft/Absicht sich mir nicht erschließt. Was will uns der Autor damit sagen? Dass er Boris Johnson blöd findet? Es muss wohl ein Gesetz geben, dass in jeder Anthologie eine Story steht, die ich nicht verstehe.

Uwe Post: Der automatische Depp | Uwes Story ist im Unterschied zu der davor wirklich lustig. Er schreibt über sein jugendliches Ich, das SF-Schriftsteller werden will, sich an die Schreibmaschine setzt und sich beim Schreiben in seiner eigenen Geschichte verheddert. Mehr will ich nicht verraten. Ein schöner Abschluss.

Zu jeder dieser Geschichten gibt es eine Vorbemerkung seitens der Herausgeber, ein Erklärstück des jeweiligen Autors sowie eine Grafik (aber nicht für alle. Merkwürdig.). Die Innenillustrationen sind von Michael Wittmann, Christian Günther, Victoria Sack, Nummer 85, Gerd Frey und Chris Schlicht.

Nach diesen neun Originalveröffentlichungen deutscher Autoren (keine Autorin) folgt eine Neuübersetzung aus dem Amerikanischen: In »Die Töpfer von Firsk« von Jack Vance erfahren wir, was es mit der gelben Schale, die auf dem Schreibtisch des Personalchefs des Amtes für Planetare Angelegenheiten steht, auf sich hat und was man mit Uran noch machen kann, außer Bomben zu bauen. Leider fehlen die bibliografischen Angaben. Deshalb mache ich das hier: »The Potter Of Firsk« erschien im Mai 1950 in Astounding Science Fiction.

Der Fall Dirk Alt und die Folgen

Der Sekundärteil bietet Nachrufe auf Thomas R. P. Mielke und Ben Bova, eine Jack-Vance-Kurzbiografie, eine Vorstellung des Projekts »Vance Integral Edition« sowie eine Reihe von Erinnerungen/Grußworten (ehemaliger) Nova-Macher und Weggefährten. Erwähnenswert erscheinen mir davon zwei Beiträge: Horst Pukallus (»Lob der Sturheit«) ätzt gegen »wirrhirnige[n], dystopische[n] Pseudo-Cyberpunk«, »ganz fleißige Fantasyautorinnen«, deren Kleinverleger und Wälzer, die »nichts als Gedächtnislücken« (S. 228) hinterließen. Einen Friede-Freude-Eierkuchen-Artikel hätte man von ihm auch nicht erwarten dürfen. Erstaunlich nur, dass er, der das Hohe Lied der Kurzgeschichte singt, nicht, wie andere seit Jahren immer wieder, gegen die angebliche Flut nichtssagender Kurzgeschichten-Anthologien austeilt.

Dirk Alts Rückblick auf »18 Jahre Nova – 18 Jahre Weltgeschichte« (und Michel K. Iwoleits Ankündigung, dass Alt Mitherausgeber von Nova werden soll) haben in Teilen der deutschen SF-Szene für Verwerfungen gesorgt und eine hitzige Debatte ausgelöst. In einem Post im Forum des SF-Netzwerks warf Norbert Stöbe Alt unter anderem »Perspektivverengung, selektive[r] Ausblendung und Umdeutung« und die Verwendung von Narrativen der extremen Rechten vor. Alt hatte unter anderen Ex-US-Präsident Donald Trump, der »in den westlichen Mainstreammedien permanent gescholten, geschmäht und dämonisiert wird«, für »eine ganze Reihe Friedensinitiativen« (S. 240) gelobt. Zugleich wies Stöbe darauf hin, dass Alt »in dem vom aktenkundigen Neonazi Kubitschek redaktionell betreuten ultrarechten Propagandaorgan Sezession publiziert«. Als Folge der daraus entstandenen Diskussion hat Alt die Nova-Redaktion verlassen, und Nova-Mitherausgeber und -Verleger Michael Haitel hat sein jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement im Science-Fiction-Club Deutschland eingestellt.

Das Ganze wäre vielleicht nicht so eskaliert, wenn Iwoleit nicht in seiner direkten Antwort auf Stöbes Post von »Massenmörder Obama« geschrieben, Kanzlerin Merkel eine »rücksichtslos opportunistische, verfassungsfeindliche Gesinnung« vorgeworfen und behauptet hätte, dass die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton »spätestens sechs Monate nach Amtsantritt einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen hätte«.

Die Diskussion kann hier verfolgt werden, allerdings hat Iwoleit das Forum verlassen und »von seinem Recht, die Löschung [seiner Beiträge] zu verlangen, Gebrauch gemacht«, heißt es dort.

Covermotiv (wie) aus den 70ern

Das Nova-30-Titelbild ist von Helmut Wenske. Älteren Progrock-Fans, denen der Stil irgendwie bekannt vorkommt, täuschen sich nicht. Wenske war Grafiker der Plattenfirma Bellaphon und hat in den 70er Jahren unter anderem Cover für die in Hamburg gegründete britische Band Nektar entworfen. Leider wird Wenkse in den »Vitae«-Auflistung am Ende des Bandes unterschlagen.

Fazit: Insgesamt der gewohnt starke Nova-Auftritt. Sprachlich und stilistisch gibt es nichts auszusetzen, da vergebe ich eine glatte »1«. Dass mir nicht alle Storys durchweg als perfekt erscheinen, liegt in der Natur der Sache. Sagte bzw. schrieb doch schon Damon Knight, vermutlich der SF-Kurzgeschichtenexperte schlechthin: »The words on paper are only instructions used by each reader to create a story.« Allerdings wird Nova 30 trotz aller guten Storys wohl vor allem wegen des Falls Alt in Erinnerung bleiben.

Ab der kommenden Ausgabe, die für den Herbst angekündigt wurde, trägt Nova den Untertitel »Magazin für spekulative Literatur«. Auf das Titelbild gibt es eine Vorschau.

Früher war mehr Lametta

Opa Hoppenstedt, Flaubert und die Science-Fiktion-Literatur der Pulp-Ära

Früher war bekanntlich mehr Lametta. Opa Hoppenstedts Bonmot aus Loriots TV-Sketch »Weihnachten bei den Hoppenstedts« von 1976 ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden und gilt nicht nur für Weihnachtsbaumdekorationen, sondern passt sogar auf die Science-Fiction-Literatur.

In seiner Studie »The History of Science Fiction« (Palgrave Histories of Literature, Basingstoke 2007, S. 175) hat der Literaturwissenschaftler und »very well-known SF author, Guardian writer and recent winner of the BSF award«  Adam Roberts die Science Fiction  aus den 1920er und 1930er Jahren, der sogenannten Pulp-Ära, als Lametta-Literatur (tinsel literature) bezeichnet. Er meinte damit den schillernden Inhalt, aber auch, dass die Pulp-Literatur in ihrer eigenen Billigkeit schwelgte.

Roberts nahm sich dabei eine Anleihe bei dem französischen Schriftsteller Gustave Flaubert (1821-1880). Dieser habe einmal gesagt, schreibt Roberts, dass er Lametta lieber möge als Silber, weil dieses mehr Pathos versprühe (»he liked tinsel better than silver because it possessed all the qualities of silver plus one more – pathos«).

Continue reading „Früher war mehr Lametta“

Der Zeitreisende, der zu spät kommt

Die Wahrheit über den Kennedy-Mord. Oder auch nicht. Zeitagent Calvin ist in im November 1963 in Dallas.

Das Bühnenbild meiner Second-Life-Lesung dieser Kurzgeschichte im Oktober 2016. Die Szenerie zeigt meinen Avatar am Tatort.

Zeitagent Calvin eilte mit energischen Schritten die Houston Street entlang. Er war spät dran. Der Absetzzeitraum war dieses Mal besonders eng gewesen, und er hatte noch ein gutes Stück laufen müssen, um zu seinem Einsatzort zu kommen. Immer wieder musste er Schaulustigen ausweichen, die wie er hier waren, um den Präsidenten zu sehen. Im Unterschied zu ihnen wusste Calvin, dass hinter einem der Fenster in dem großen Backsteingebäude, an dem er jetzt vorbeihastete, ein Attentäter wartete und in ein paar Minuten tödliche Schüsse auf John F. Kennedy abgeben würde.

Calvins Auftrag: Er sollte das Attentat, das ein Jahrhundert danach noch immer zu den Traumata der amerikanischen Nation zählte, im Bild festhalten. Es gab zwar jede Menge Bildmaterial, aber es war alles von miserabler Qualität. Calvin fand das unschicklich, aber Auftrag war Auftrag. Die Techniker der Zeitagentur hatten ihn mit ihrem neuesten Hightech-Gerät ausgestattet, das ihm, als schwerer Fotoapparat getarnt, um den Hals hing und bei seiner beschleunigten Gangart im Rhythmus seiner Schritte gegen den Bauch prallte.

»Sie gehen dahin und schauen sich ein bisschen um«, hatte sein Chef gesagt. Er hatte die Neigung, alle Einsätze als Sonntagsspaziergänge darzustellen. Dabei waren Zeitreisen eine knifflige Angelegenheit, bei der viel schiefgehen konnte. Das wurde den Zeitagenten fast täglich eingebläut.

Über das Attentat auf Kennedy gab es einen riesigen Berg aus Untersuchungsberichten, Ermittlungsakten, Zeitungsartikeln, Büchern, Blogbeiträgen und sogar Gedichten. Calvin hatte sich tagelang damit beschäftigt. Die wesentlichen Fakten hatte er im Kopf. An diesem 22. November 1963 fuhren Kennedy und seine Frau Jaqueline mit Gouverneur Connally und dessen Frau in einem offenen Lincoln Continental X-100 vom Flugplatz zu einer Wahlkampfkundgebung. Gegen 12.30 Uhr, in ein paar Minuten, würde der Konvoi von der Main Street in die Houston Street und von dort in die Elm Street einbiegen. Sekunden später würden drei Schüsse fallen, die Kennedy tödlich verletzen würden. Der Täter, ein gewisser Lee Harvey Oswald, würde zunächst entkommen, aber wenig später gefasst werden. Zwei Tage später würde der Attentäter von dem Nachtclubbesitzer Jack Ruby erschossen werden.

Calvin bog mit Schwung um die Ecke in die Elm Street ein und wurde zurückgeschleudert. Ein bulliger Mann mit einem Cowboyhut taumelte zur Seite und stieß eine Mülltonne um. Der Behälter rollte langsam vom Bürgersteig auf die Straße. Der Cowboy verlor jetzt endgültig das Gleichgewicht und stürzte. Der Hut landete Calvin direkt vor den Füßen.

Sofort war der Cowboy von einer Handvoll dunkel gekleideter Männer umringt. Sicherheitsleute des Präsidenten oder des FBI, dachte Calvin und sah zu, dass er ein paar Schritte Abstand bekam. Nicht erwischt zu werden hatte bei den Zeitagenten Priorität. Seine Papiere waren zwar gut und würden jeder normalen Kontrolle durch die Polizei standhalten, aber wenn sie seine Angaben überprüften, würde seine Legende wie ein Kartenhaus zusammenbrechen.

Einer der Sicherheitsleute sprach hastig in sein Walkie-Talkie, drei andere drängten die Schaulustigen, die dicht an dicht am Straßenrand standen, zurück. Zwei Polizisten in Uniform stellten sich mitten auf die Kreuzung, zwei weitere rannten hinüber zur Main Street und wedelten dabei heftig mit den Armen.

Im nächsten Moment tauchten dort drei Polizeimotorräder hinter der Hausecke auf. Sie machten Anstalten abzubiegen, aber als die Fahrer die aufgeregten Kollegen sahen, fuhren sie geradeaus weiter. In einem Abstand folgte der Lincoln des Präsidenten. Kennedy saß im Fond des Cabrios auf der rechten Seite. Er hatte sich nach vorne gebeugt und sprach offenbar mit dem Fahrer. Dann war der Wagen von Calvins Standort aus nicht mehr zu sehen. Bäume versperrten die Sicht.

Inzwischen war der Cowboy wieder auf den Beinen. Die Sicherheitsleute tasteten ihn ab, drehten die Gegenstände, die sie in seinen Taschen fanden, in den Händen. Offenbar kam ihnen nichts verdächtig vor, und sie ließen von ihm ab. Der Cowboy nahm seinen Hut und ging davon. Der Mann mit dem Walkie-Talkie gab noch ein paar Anweisungen, bevor er um die Ecke verschwand. Die Menschenmenge am Straßenrand löste sich auf. Es gab nichts mehr zu sehen.

Zeitagent Calvin hatte die ganze Zeit auf das Geräusch von Schüssen gewartet. Aber es war nichts passiert. Er mustere das Fenster im sechsten Stock des Schulbuchlagers, hinter dem der Schütze gelauert haben musste. Zu sehen war nichts. Es hatte kein Attentat gegeben. Der Präsident lebte. Dieser 22. November 1963 würde nicht in die Geschichte eingehen.

Er hatte es vermasselt, weil er den Cowboy angerempelt hatte. Er war dafür verantwortlich, dass John F. Kennedy lebte. Er hatte die Vergangenheit verändert. Die Erkenntnis traf Calvin fast schmerzhaft.

In diesem Moment kippte die Welt von Zeitagent Calvin zur Seite und machte einer anderen Platz.

Aus diesem Gebäude an der Ecke North Houston Strett/Elm Street wurde am 22. November 1963 auf John F. Kennedy geschossen. Bild: Dakota L. – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44448674

***

Zeitagent Calvin schlenderte in aller Seelenruhe die Houston Street entlang. Es war kurz vor halb eins, er hatte knapp zehn Minuten Zeit, um sich in Position zu bringen, bevor dreimal auf den Präsidenten geschossen werden würde. Die Straßenränder waren von zahlreichen Menschen gesäumt, auf der gegenüberliegenden Dealey Plaza hatten sich einige Fotografen postiert. Alle warteten auf John F. Kennedy. Einer von ihnen hatte sich mit einem Gewehr im County Records Building, einem acht oder neun Stockwerke hohen Gebäude aus der Zeit der Jahrhundertwende, versteckt und würde sein Mörder werden.

Calvins Auftrag: Er sollte herausfinden, wer am 22. November 1963 auf Kennedy geschossen hatte. Alle Versuche, den Mörder zu ermitteln, waren ins Leere gelaufen. Hundert Jahre nach dem letzten erfolgreichen Attentat auf einen amtierenden US-Präsidenten war dieser Fall noch immer ungelöst. Ein schwarzer Fleck auf der glorreichen Geschichte der amerikanischen Justiz. Eine Schande für die Ermittler. Obwohl der Mörder lange tot war, war die Akte nie geschlossen worden. Jetzt hatten die Behörden die Möglichkeit, den schwarzen Fleck zu tilgen.

»Sie gehen da hin, schauen sich ein bisschen um und bringen uns den Namen, mehr nicht. Ein Gesicht reicht vielleicht schon«, hatte sein Chef gesagt. Er hatte die Neigung, alle Einsätze als Sonntagsspaziergänge darzustellen. Dabei waren Zeitreisen eine knifflige Angelegenheit, bei der viel schiefgehen konnte. Man durfte sich vor allem nicht erwischen lassen. Das wurde den Zeitagenten fast täglich eingebläut.

Über den Fall Kennedy gab es einen riesigen Berg aus Untersuchungsberichten, Ermittlungsakten, Zeitungsartikeln, Büchern, Blogbeiträgen und sogar Gedichten. Calvin hatte sich tagelang damit beschäftigt. Die wesentlichen Fakten hatte er im Kopf. Wenige Minuten nach halb eins wird Kennedy zusammen mit seiner Frau Jaqueline, dem Gouverneur und dessen Frau sowie einem Leibwächter und dem Fahrer in einem offenen Lincoln Continental X-100 von der Main Street in die Houston Street und von dort in die Elm Street einbiegen. In diesem Moment werden drei Schüsse fallen und Kennedy und den Gouverneur töten. In dem anschließenden Chaos wird es dem Mörder gelingen, in der Menge unterzutauchen. Erst eine Stunde später wird seine Waffe, ein spanisches Infanteriegewehr, im fünften Stock des Records Building gefunden.

Es gab für den Attentäter nur eine Möglichkeit, das Gebäude zu verlassen. Das Treppenhaus war der einzige Zugang zur Straße. Das Haus hatte keinen Hintereingang, keine Feuerleiter und keine Fenster, aus denen der Attentäter hätte springen können.

Calvins ganze Ausrüstung bestand aus einem Multifunktionsinstrument, das als Kamera getarnt war. Mit einem solchen Fotoapparat fiel er hier nicht weiter auf. Das Gerät würde einer flüchtigen Überprüfung standhalten, und man konnte damit tatsächlich auf altertümliche Weise fotografieren. Die Techniker der Zeitagentur waren keine Anfänger, sie verstanden ihren Job.

Calvin öffnete die schwere Holztür und trat ein. Das Vestibül verströmte den Charme einer längst vergangenen Zeit. Dunkles Holz, Marmor und Stuckverzierungen prägten das Ambiente. Von der Decke hing ein betagter Kronleuchter. Ein kleiner, verglaster Verschlag diente offenbar als Pförtnerloge, war aber leer. Vermutlich war die Neugier des Pförtners größer als sein Diensteifer, und er stand mit den anderen Schaulustigen auf der Straße.

Im hinteren Teil der Vorhalle schwang sich eine erstaunlich breite Treppe aufwärts. Calvin sah sich nach einem günstigen Standort um, von wo aus er die Treppe im Auge behalten konnte. Nur die Loge kam in Frage. Das war ungünstig, der Pförtner konnte zurückkommen.

Von irgendwo her ertönte der Schlag einer Uhrglocke. Es war halb eins. Jetzt musste er sich sputen. Aber noch bevor der Zeitagent sich in Bewegung setzen konnte, hörte er drei Schüsse.
Calvin sprang durch die noch einen Spalt breit offenstehende Tür zurück auf die Straße. Im ersten Moment sah er nur eine wild durcheinander laufende Menschenmenge. Direkt vor ihm hatte ein Frau ein junges Mädchen zu Boden gerissen, als wolle sie es mit ihrem Körper schützen. Ein Mann mit einem Cowboyhut hatte sich, mit dem Rücken zum Records Building, hinter einer Mülltonne in Sicherheit gebracht. Schräg gegenüber rannten dunkel gekleidete Männer, wahrscheinlich Sicherheitsleute oder Polizisten in Zivil, auf den Eingang des Schulbuchlagers zu. Calvin sah in einiger Entfernung auf der Elm Street einen großen, dunklen Wagen mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Unterführung davonfahren. Der Lincoln des Präsidenten.

Erschrocken hielt Calvin inne. Da war einiges anderes gelaufen, als es sollte. Der Präsident war Minuten zu früh um die Ecke gebogen, und die Schüsse waren mit Sicherheit nicht aus dem Records Building gekommen. So viel stand fest.

Wo war er hier hineingeraten? Eine Zeitverwerfung? Auf den Gängen der Zeitagentur in Washington wurde darüber nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen. Offiziell gab es so etwas nicht. Die Vergangenheit stehe unverrückbar fest, lautete das Credo. Aber jeder Zeitagent hatte bei seinen Einsätzen schon kleine Abweichungen von den überlieferten Fakten bemerkt. Das wurde immer auf die Überlieferung geschoben. Von so einem eklatant veränderten Ablauf hatte Calvin nie gehört.

Er musste in Erfahrung bringen, was gerade passiert war. Die Büros der Dallas Morning News lagen nur einen Steinwurf entfernt. Bei der Zeitung würde er am ehesten etwas erfahren.

In diesem Moment kippte die Welt von Zeitagent Calvin zur Seite und machte einen anderen Platz.

***

Zeitagent Calvin hastete die Houston Street entlang. Jede Sekunde war kostbar. Es waren nur noch wenige Minuten, bis die tödlichen Schüsse fallen würden. Er musste auf die andere Seite der Straße und in das Haus gegenüber, einen sechsstöckigen Backsteinbau von der Jahrhundertwende. Dort wartete der Attentäter auf den Konvoi des Präsidenten, der jeden Augenblick um die Ecke biegen konnte.

In seiner Eile rannte Calvin fast einen Mann mit einem Cowboyhut über den Haufen. Der Passant kam ins Straucheln und prallte gegen eine Mülltonne, die umfiel und langsam über den Bürgersteig rollte. Calvin murmelte eine Entschuldigung, die er selbst kaum hören konnte, und war vorbei. Die Situation kam ihm merkwürdig bekannt vor. Er hatte den Eindruck, das alles schon einmal erlebt zu haben, nur anders. Ein seltsames Déjà-vu. Es war wie die Erinnerung an einen Traum, eine wirre Folge von Bildern.

Er konnte sich nicht einmal genau an den Auftrag erinnern, mit dem er in die Vergangenheit geschickt worden war. Er sollte verhindern, dass ein gewisser Lee Harvey Oswald, der im Schulbuchlager arbeitete, heute den Präsidenten ermordete, aber gleichzeitig herausfinden, wer John F. Kennedy an diesem 22. November 1963 vom Dach des Records Buildings aus erschossen hatte. Das war widersinnig. Außer es gab zwei Attentäter. War es dann nicht egal, wer die tödlichen Schüsse abgab?

Calvin drückte die Tür zum School Book Depository auf. Der Vorraum war menschenleer. Die offene Aufzugtür fiel ihm sofort ins Auge. Der Zeitagent spurtete hinein und drückte, ohne zu zögern, den obersten Knopf. Er wunderte sich über seine Zielstrebigkeit, aber er war absolut sicher, das Richtige zu tun.

Quälend langsam schloss sich die Lifttür, und ebenso langsam setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Vermutlich wäre er genauso schnell oben gewesen, wenn er die Treppe genommen hätte. Aber es tat gut, einen Moment verschnaufen zu können und die Gedanken zu sortieren. Im Grund hatte er keine Ahnung, was er tun sollte. Er konnte sich doch keinem bewaffneten Mann entgegenstellen. Er wollte seinen Auftrag erfüllen, aber dafür nicht sein Leben lassen.

Die Aufzugtür öffnete sich im vierten Stock, und Calvin stand in einem langen Flur, der von ein paar Lampen schwach beleuchtet wurde. Durch eine nur angelehnte Tür hörte er Stimmen. Er drückte die Tür auf und fand sich in einem Großraumbüro wieder. Es standen vielleicht zwei Dutzend Schreibtische darin. Nur wenige waren besetzt. Es war Mittagszeit, in der Kantine war sicher mehr los.

In der gegenüberliegenden Wand, die zur Elm Street hin liegen musste, zählte er sieben doppelflügelige Fenster. Von dort hatte man ein ideales Schussfeld, aber für einen Mordanschlag war es ungeeignet. Er musste weiter nach oben.

Als sich Calvin umdrehte, um den Raum zu verlassen, stand er einem schmächtigen jungen Mann gegenüber. Der Zeitagent überragte ihn fast um einen Kopf. Der Mann hielt einen Stapel Bücher in den Händen und machte einen Schritt zur Seite, als wollte er an Calvin vorbei.

Calvin starrte ihn ungläubig an. Er kannte dieses Gesicht mit dem leicht schnippischen Ausdruck. Es musste es tausend Mal gesehen haben. Wie konnte das sein?

»Lee Harvey Oswald?« In Calvins Stimme lag nur eine ganz leichte Spur von Unsicherheit.

Der Mann nickte.

»Ja. Worum geht’s, mein Herr?«

Das Krachen von drei Schüssen über ihnen machten eine Antwort überflüssig.

Der junge Mann ließ vor Schreck die Bücher fallen, zwei Frauen warfen sich zu Boden, jemand schrie. Calvin rannte quer durch den Raum und riss ein Fenster auf. Kalte Luft schlug ihm entgegen. Auf der Elm Street sah er einen großen, dunklen Wagen mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Unterführung davonfahren. Der Lincoln des Präsidenten.

Calvins Gedanken rasten. Nichts stimmte. Oswald hatte gar nicht versucht, Kennedy zu ermorden. Der junge Mann stand noch immer völlig verdattert in der Tür. Jemand anderes hatte geschossen, aber nicht von der richtigen Stelle, und der Präsident war auch viel zu früh vorbeigekommen.

Jetzt war keine Zeit, über die vielen Ungereimtheiten nachzudenken. Er musste auf dem schnellsten Weg von hier verschwinden. Auf keinen Fall durfte er den Ermittlern in die Hände fallen. Seine Papiere waren zwar gut und würden jeder normalen Kontrolle durch die Polizei standhalten, aber wenn sie nur ein bisschen an der Oberfläche kratzten, würde seine Legende wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Sie würden nicht nur ein bisschen kratzen, so viel war sicher.

In diesem Moment kippte die Welt von Zeitagent Calvin zur Seite und machte einen anderen Platz.

***

Zeitagent Calvin erstarrte. Er stand mitten in einem weiten, welligen Grasland, das bis zum Horizont reichte. Dies war nicht die Houston Street in Dallas, Texas.

aus: Norbert Fiks: »Zeit für die Schicht und andere SF-Kurzgeschichten«. Norderstedt 2016. Gibt es gedruckt oder als E-Book im örtlichen und digitalen Buchhandel. Für Online-Bestellungen empfehle ich den Shop der Autorenwelt.