Im Handgalopp zum Kantersieg

Wer herausfinden will, was ein 6:0 im Fußball mit Pferden zu tun hat, muss sich mit mittelalterlicher Literatur beschäftigen

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Was hat das 6:0 der englischen Fußballnationalmannschaft am 14. Oktober gegen Bulgarien mit Pferden und einem mittelalterlichen Versen zu tun? Die Antwort zeigt wieder einmal, wie wandlungsfähig Sprache ist. In den letzten Tagen habe ich im Sportteil meiner Lokalzeitung, bei der ich arbeite, gleich mehrfach den Ausdruck »Kantersieg« gelesen. Was ist eigentlich ein Kantersieg, habe ich mich gefragt – und weil ich Urlaub habe und keinen Kollegen aus der Sportredaktion fragen konnte, habe ich im Internet recherchiert.

Ein Kantersieg ist, vor allem bei Ballspielarten, die Bezeichnung für einen ungewöhnlich hohen und leicht herausgespielten Sieg. Auf einen 6:0-Auswärtssieg in der Qualifikation zur Fußball-Europameisterschaft trifft diese Bezeichnung zweifellos zu. Abgeleitet ist der Kantersieg vom englischen Verb to canter, das im übertragenen Sinne »mühelos siegen« bedeutet, aber eigentlich aus dem Pferdesport kommt, also gar nichts mit Fußball zu tun hat und im Grunde auch nichts mit siegen. Es bedeutet nämlich nur »leicht galoppieren«, das dazu gehörende Substantiv wird als »Handgalopp« übersetzt. In diesem Sinn wird »Kanter« immer noch im Reitsport für eine Gangart verwendet.

Es gibt zwar einige ähnlich geschriebene Wörter im Englischen – cant kann Heuchelei, aber auch Schräge bedeuten –, aber damit hat der Kantersieg nichts zu tun. Vielmehr kommt jetzt der im 14. Jahrhundert in London wirkende Schriftsteller Geoffrey Chaucer ins Spiel. Er gilt als Begründer der modernen englischen Literatur und ist bekannt für die »Canterbury Tales«, einer Reihe von Erzählungen in Vers- und Prosaform. Darin geht es um eine Gruppe von Pilgern, die das Grab des Heiligen Thomas Becket in der südostenglischen Bischofsstadt besuchen wollen. Diese Pilger machen die Reise von London nach Canterbury nicht zu Fuß, sondern gemächlich zu Pferd, weshalb diese Form des Reitens als »Canterbury gallop« bezeichnet wurde, was später zu canter verkürzt wurde.

Ein Kantersieg für Helmut Kohl und die CDU

Den ältesten Nachweis für die Verwendung von »Kantersieg«, den ich gefunden habe, stammt aus dem Jahr 1921 aus der »Zeitschrift für Gestütkunde«. Dort ist von einem »Kantersieg im Fels-Rennen« die Rede. Das Wochenmagazin »Der Spiegel« schrieb im November 1970 im Zusammenhang mit der Kommunalwahl in Rheinland-Pfalz über »Kantersiege seiner Partei [der CDU Helmut Kohls, der dort damals Ministerpräsident war] im Raum Koblenz-Trier«. Auf frühere Verwendungen weist summarisch die DWDS-Wortverlaufskurve hin, die die erste Nennung für 1947 registriert. Im aggregierten Referenz- und Zeitungskorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache ist aber erst für 1985 ein »Kantersieg« im Fußball vermerkt – der sich auf das 6:0 der deutschen Fußballnationalmannschaft in der WM-Qualifikation gegen Malta bezieht (dabei hatte die BRD Malta schon 1974 mit 8:0 geschlagen). Seit etwa Anfang der 1990er Jahre ist eine steigende Verwendung festzustellen, der wohl fast ausschließlich auf Sportberichterstattung zurückzuführen ist. Der Spitzenwert wird für das Jahr 2014 verzeichnet, als Deutschland bei der Fußball-WM in Brasilien den Gastgeber im Halbfinale mit 7:1 besiegte.

Im Englischen wird ein Kantersieg übrigens als »blowout« bezeichnet.

Ein Wochenende voller Bücher

Mitbringsel von der Frankfurter Buchmesse und vom Buchmesse Convent in Dreieich.

Die Ausbeute eines Bücherwochenendes: eher bescheiden, oder?

Das zurückliegende Buchmessen-Wochenende war erwartungsgemäß intensiv, abwechslungsreich und anstrengend. Für solche »Abenteuer« muss man Lärm und große Menschenmengen aushalten können. Selbst auf dem im Vergleich zur Frankfurter Buchmesse beschaulichen Buchmesse Convent (BuCon) im benachbarten Dreieich war es voll.

Die Besucherzahlen legen übrigens nahe, dass es um das Buch gut bestellt sein muss. Beide Veranstaltungen meldeten Rekordbesuche: 302.000 in Frankfurt, 820 in Dreieich. Für alle, die den BuCon nicht kennen: Das ist seit mehr als 30 Jahren die alternative Buchmesse der Phantastik-Szene, ein Muss für alle SF-Leser.

Bei Buchmessen macht man im Wesentlichen drei Dinge: Bücher ansehen und kaufen, mit Leuten, die Bücher schreiben, verlegen oder lesen, reden und Veranstaltungen über Bücher besuchen. Ich habe alles gemacht, will hier aber nur etwas über die Bücher schreiben, die ich gekauft habe (bis ich sie nächstes Jahr oder später gelesen habe, interessiert sich niemand mehr für eine Rezension). Impressionen von den beiden Messe gibt’s am Ende in einer Bildergalerie.

Der Kultmaler der Heftromane

Schon bei der ersten Nachricht über das Erscheinen des Bildbandes »Rudolf Sieber-Lonati. Kultmaler der Heftromane« spürte ich den »Das muss ich haben«-Reflex. So war es kein Zufall, dass ich trotz des hohen Preises von 50 Euro zugriff, als ich den Band auf dem BuCon am Stand des Blitz-Verlags sah. Verleger und Herausgeber Jörg Kaegelmann, der Lonatis Originalmotive aus dem Nachlass bekommen hatte, drückte mir persönlich ein nummeriertes Exemplar (226 von 300) in die Hand.

Auf 214 Seiten werden unzählige Cover-Motive präsentiert, die der 1924 geborene und 1990 gestorbene Österreicher für deutsche Heftromane quer durch alle Genres schuf. Mehrere Autoren steuerten launige Texte über den »Manieristen des Groschenheft-Covers« bei. Lo, so lautete seine Signatur, malte Tausende Bilder, aber über ihn selbst sind erst in den letzten Jahren biografische Einzelheiten bekannt geworden. Er und seine Frau lebten abgeschottet vom Rest der Welt in Bad Tölz und hatten so gut wie keinen Kontakt nach außen, nicht einmal zu seinen Verlegern.

Es ist ein wichtiges Buch, die verdiente Würdigung eines großen Genre-Künstlers. Schade, dass Verleger Kaegelmann dem Bildband nur ein Softcover gönnte.

Ein neues Comic-Magazin

Zwei, die entscheidend am Lonati-Buch mitgearbeitet haben, sind René Moreau und Olaf Kemmler, die Herausgeber des SF-Magazins »Exodus«. Jetzt hat René zusammen mit Michael Vogt ein Herzensprojekt verwirklicht und die erste Nummer einer neuen Comic-Anthologiereihe zum BuCon mitgebracht. Das Hardcover-Album (yes!) trägt den bezeichnenden Titel »Cozmic« und vereint eine Reihe von SF-Geschichten verschiedener Zeichner und Autoren. Erschienen ist »Cozmic I« im Atlantis-Verlag, Band 2 ist in Vorbereitung. Preis: 19,80 Euro.

Flucht von Zumura

Nach zwei Großformaten legte ich mir einen dicken Wälzer zu. Die »Flucht von Zumura« ist eine 560 Seiten dicke SF-Kurzgeschichtenanthologie aus dem Verlag für Moderne Phantastik, in dem vor zwei Jahren meine für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominierte Story »Das letzte Mammut« erschienen war. Ich habe also eine besondere Beziehung zu den Produkten des Verlegerehepaares Petra Weber-Gehrke und Rico Gehrke. Ihr Panel, auf dem Gabi Blauert, Axel Kruse, Jacqueline Montemurri und Frank G. Gerigk ihre Anthologie-Beiträge lasen, bildete bei mir den BuCon-Auftakt.

Mein Tipp: Kauft diese Bücher direkt bei den Verlagen, die haben‘s schon schwer genug.

Der Kaiser geht

Jetzt verlassen wir den BuCon und die Science-Fiction und begeben uns zurück in die Zeit nach dem 1. Weltkrieg in Deutschland. Der dokumentarischen Roman »Der Kaiser ging, die Generäle blieben« von Theodor Plivier erschien erstmals 1932 und handelt vom Versagen der Politik in der Weimarer Republik. Das schlichte schwarz-rote Cover fiel mir am Stand des Wachholtz-Verlags auf der Buchmesse ins Auge und der Text fesselte mich unmittelbar. Das wird eine spannende Lektüre.

Ein früher SF-Roman. Oder bloß Satire.

Ein Buch, das ich in der »Anderen Bibliothek« beim Aufbau-Verlag gesehen, aber (noch) nicht gekauft habe, ist der Roman »Der Consoldidator oder Erinnerungen an allerlei Vorgänge aus der Welt des Mondes« von Daniel Defoe, dem Verfasser von »Robinson Crusoe« (ISBN 9783847704072). Eine Entdeckung? Ich kann mich nicht daran erinnern, diesen Roman schon mal in den einschlägigen Auflistungen über Mondroman gesehen haben. Ist es schon Science-Fiction oder nur eine Satire?

Auf dem BuCon

Auf der Buchmesse

Neue Sonnen am SF-Himmel

Eine aktuelle Anthologie legt den Schwerpunkt auf »speculative fiction by people of color«.

Cover New Suns ed by Nisi Shawl

Nisi Shawl (ed.): New Suns. Original Speculative Fiction by People of Color. Solaris Books, Oxford 2019. 978-1781085783.


In der Anthologie »New Suns« sind Kurzgeschichten von Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlicher ethnischer Herkunft – people of color – vereint. Der Titel bezieht sich direkt auf einen Ausspruch der afroamerikanischen Autorin Octavia E. Butler: »There’s nothing new under the sun, but there are new suns – Es gibt nichts Neues unter der Sonne, aber es gibt neue Sonnen.« Herausgeberin Nisi Shawl zeigt damit, wie vielfältig die englischsprachige »speculative fiction“ heutzutage ist und wie viele neue Sonnen es jenseits des Mainstreams zu entdecken gibt. Dass die Anthologie dadurch auch eine gesellschaftspolitische Haltung einnimmt, versteht sich von selbst.

Die Storys decken thematisch und stilistisch eine große Bandbreite ab. Für mich als Science-Fiction-Leser mit einem ausgeprägten Hang zu realistischen Szenarien liegen die meisten Storys jedoch nicht auf der richtigen Wellenlänge. Da erzählt beispielsweise Hiromi Goto von einer übergewichtigen Frau, der bei einer Waldwanderung plötzlich das Körperfett abhanden kommt, ein Eigenleben entwickelt und von einem sprechenden Bären im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt wird, und Darcie Little Badger entführt uns in eine Welt, in der die Seelen der Gestorbenen eine Art körperliche Existenz haben und die Seelen Lebender kannibalisieren. Jaymee Goh erzählt von einer erotischen Beziehung zwischen einer Frau und einem Seeungeheuer. Das ist mir zu viel Mystery, klassische SF ist Mangelware. In der Auftaktstory von Tobias Buckell kommt immerhin ein Alien-Tourist vor, der in New York zwischen Flughafen und Innenstadt aus einem Flugtaxi in den Tod springt.

Andererseits habe ich die meisten Geschichten mit Vergnügen gelesen, weil sie einfach klasse geschrieben sind. Wer gerne seinen Horizont erweitern und neue Sonnen am Himmel der phantastischen Literatur entdecken möchte, kann mit »New Suns« nichts falsch machen. Vielleicht taucht die eine oder andere Geschichte ja auch mal in deutscher Übersetzung auf. Das in Oxford/GB erschienene Taschenbuch bekommt man in Deutschland bei den großen Online-Buchhändlern wie Amazon, Thalia oder Hugendubel; es empfiehlt sich, die Preise und die Lieferzeiten zu vergleichen. Selbstverständlich gibt es neue Sonnen auch als E-Book.

»New Suns« enthält Storys von Kathleen Alcala, Minsoo Kang, Anil Menon, Silvia Moreno-Garcia, Alex Jennings, Alberto Yanez, Steven Barnes, Jaymee Goh, Karin Lowachee, E. Lily Yu, Andrea Hairston, Tobias Buckell, Hiromi Goto, Rebecca Roanhorse, Indrapramit Das, Chinelo Onwualu und Darcie Little Badger.